TETRABENAZIN (NITOMAN) BEI M. HUNTINGTON UND SPÄTDYSKINESIEN | ||||
Das Benzochinolizin-Derivat Tetrabenazin (NITOMAN) wurde bereits in den
1950er Jahren als Neuroleptikum entwickelt. Es konnte sich als Antipsychotikum nicht behaupten, wird aber beispielsweise in Großbritannien seit Jahrzehnten
bei hyperkinetischen Bewegungsstörungen verwendet.1,2 Schwierige Dosisfindung und stark dosisabhängige Störwirkungen wie
extrapyramidalmotorische Symptomatik und Depressionen mit Suizidversuchen haben die Anwendbarkeit von Tetrabenazin offenbar begrenzt.1-5 EIGENSCHAFTEN: Tetrabenazin hemmt die Aufnahme von Dopamin und Noradrenalin, aber auch von Serotonin in die Speichervesikel
der präsynaptischen Neurone.11 Zusätzlich zur reversiblen transmitterverarmenden Wirkung besitzt Tetrabenazin am Dopaminrezeptor
postsynaptisch schwach antagonistische Eigenschaften.12,13 WIRKSAMKEIT BEI CHOREA HUNTINGTON: In einer zwölfwöchigen plazebokontrollierten Doppelblindstudie mit 84 ambulanten Patienten
wird der Einfluss von täglich maximal 100 mg Tetrabenazin auf sieben Teilaspekte der Choreasymptomatik (UHDRS*) geprüft. Die eigentlich
relevante Gesamtmotorik, der klinische Gesamteindruck, grob orientierend bewertet nach CGI**, und Fähigkeiten im Alltag (UHDRS) werden sekundär
erfasst.15 Eingeschlossen sind im Schnitt knapp 50-jährige Patienten, deren Choreasymptomatik durchschnittlich 15 von 28 möglichen Punkten
beträgt, deren Gesamtmotorik mit ungefähr 46 von 124 Punkten beeinträchtigt ist und die weder Schluck- oder Sprachstörungen noch eine
beeinträchtigende Depression aufweisen. Die Mehrheit (60%) nimmt jedoch Antidepressiva ein, 17% Benzodiazepine.
Weitere kleine überwiegend ältere Studien zu Tetrabenazin bei Patienten mit M. Huntington1,12,17,18 oder unterschiedlichen Bewegungsstörungen2,19-22 entsprechen nicht heutigen Anforderungen und erlauben keine Rückschlüsse. Hinweise auf Wirkverlust bei einem Teil der Patienten finden sich in frühen psychiatrischen Studien, aber auch bei der Therapie von Bewegungsstörungen.2-4 In den USA reichten die bisherigen Daten für eine Zulassung bei M. Huntington offenbar nicht aus.23 Die Firma selbst rechnete bereits im Vorfeld mit Schwierigkeiten aufgrund der negativ ausgefallenen zweiten Phase-III-Studie.24 WIRKSAMKEIT BEI SPÄTDYSKINESIEN: Die Datenlage ist unzureichend: Zwei alte kleine, als randomisiert bezeichnete Ein-Zentrums-Studien mit 4 und 19 Patienten mit Spätdyskinesie und eine kleine Cross-over-Studie, die auch 10 Patienten mit Spätdyskinesie einschließt, erfüllen heutige Standards nicht.21,22,25 Darüber hinaus finden wir vorwiegend retrospektive Auswertungen von Patienten mit verschiedenen Bewegungsstörungen.13,19,26 STÖRWIRKUNGEN: Im Vordergrund stehen Schläfrigkeit/Somnolenz (32% versus 3% unter Plazebo) und Müdigkeit (22% vs. 13%). Andererseits nimmt auch Schlaflosigkeit zu (26% vs. 0%). Motorisch fallen häufige Hyperkinesien (9% vs. 0%), Ataxie (9% vs. 0%) und Stürze (17% vs. 13%) auf. Mit schwerwiegenden psychiatrischen Störwirkungen wie Depression (15% vs. 0%), Angst (15% vs. 3%) und Agitation (15% vs. 0%) ist zu rechnen,15 die - ebenso wie Suizidalität - auch in frühen psychiatrischen Studien beschrieben sind.2,3,5 Nach Daten von 400 durchschnittlich 42-jährigen Patienten mit verschiedenen Bewegungsstörungen, die Tetrabenazin im Mittel etwas länger als zwei Jahre einnehmen, werden Parkinsonoid bei 29% der Patienten, Akathisie bei 10%, akute dystone Reaktionen und Tremor bei jeweils 3% sowie Dysphagie bei 0,5% beobachtet. 55% brechen die Therapie ab, 23% wegen Störwirkungen. 5% dieser insgesamt noch jungen Patienten sterben. Die Autoren sehen jedoch, ebenso wie bei Todesfällen in anderen Studien,20,26 keinen Zusammenhang mit der Medikation.13 Britische Ärzte berichten über schwere Dysphagien und Pneumonie mit Todesfolge bei drei von fünf Behandelten, davon einer mit gesicherter Aspirationspneumonie.27 Erhebliche Gewichtszunahme und Blutzuckererhöhung sind schon in frühen psychiatrischen Studien aufgefallen.3,4 Auch das als Neuroleptika-Störwirkung gefürchtete maligne neuroleptische Syndrom und schwere Hyperthermie kommen vor.28-30 Da akute extrapyramidalmotorische Symptomatik, wie sie unter Tetrabenazin auftritt, als Risikofaktor für Spätdyskinesien gilt,31 kann diese Spätschädigung auch nach Einnahme von Tetrabenazin nicht ausgeschlossen werden. KOSTEN: Bezogen auf eine Tagesdosis von 75 mg Tetrabenazid (NITOMAN) ist die Behandlung mit 164 ( pro Monat dreimal so teuer wie mit einem Tiaprid-Generikum (TIAPRID-CT, 52 €/Monat bei 3 x 100 mg/Tag) und ungefähr 20-mal so teuer wie ein Haloperidol-Generikum (z.B. HALOPERIDOL HEXAL, monatlich 8 € bei 2 x 2 mg/Tag). Seit März 2007 ist das mehr als 50 Jahre alte Neuroleptikum Tetrabenazin (NITOMAN) zur symptomatischen Therapie von Hyperkinesien bei Morbus
Huntington sowie nach erfolglosen Therapiemaßnahmen bei mindestens mittelschweren Spätdyskinesien in Deutschland im Handel. |
| (R = randomisierte Studie, M = Metanalyse) | |
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