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Therapiekritik

THERAPIE DER IDIOPATHISCHEN PERIPHEREN FAZIALISLÄHMUNG

Die von dem schottischen Arzt BELL beschriebene idiopathische periphere Fazialisparese tritt überwiegend bei Erwachsenen mittleren Alters auf und bildet sich meist spontan zurück. Bei jedem Dritten bis Fünften bleiben jedoch Restsymptome. Die Bedeutung des Herpes-simplex-Virus für diese Erkrankung ist nicht abschließend geklärt. Neben Maßnahmen zum Augenschutz wird häufig frühzeitig mit einem Glukokortikoid wie Prednisolon (DECORTIN H u.a.) und/oder antiviral mit Aciclovir (ZOVIRAX) oder der Vorstufe Valaciclovir (VALTREX) behandelt. Der Nutzen dieser Mittel in der nicht zugelassenen Indikation ist unzureichend belegt.1,2

Jetzt wird in einer großen, mit öffentlichen Geldern finanzierten schottischen Multicenterstudie3 im faktoriellen Design (a-t 2003; 34: 100 [im *-Text]) die Wirksamkeit einer zehntägigen Einnahme von täglich 50 mg Prednisolon, 2.000 mg Aciclovir oder einer Kombination aus beiden mit Plazebo verglichen. 551 im Mittel 44 Jahre alte Patienten mit einseitiger Fazialisschwäche bzw. -lähmung ohne feststellbare Ursache werden in die randomisierte Doppelblindstudie aufgenommen. Die Symptomatik darf nicht länger als 72 Stunden bestehen. Die Patienten haben eingangs eine im Mittel moderat beeinträchtigte Fazialisfunktion, die mit Hilfe von Fotografien erfasst wird (durchschnittlich Grad 3,6 auf der House-Brackmann-Skala*).3

* House-Brackmann-Skala: Grad 1 = normale symmetrische Funktion in allen Bereichen, Grad 3 = nicht entstellende Schwäche, eventuell Heben der Augenbraue nicht möglich, vollständiger Augenschluss möglich, asymmetrische Mundbewegung, deutliche Synkinesien oder Spasmen. Maximale Ausprägung: Grad 6, bei dem keine Bewegung mehr möglich ist.

Nach drei Monaten hat sich die Fazialislähmung bei 83% unter Prednisolon gegenüber 64% ohne Prednisolon vollständig zurückgebildet (Number Needed to Treat [NNT]: 6), nach neun Monaten ist dies bei 94% gegenüber 82% der Fall (NNT: 8). Aciclovir bleibt dagegen ohne Nutzen: Nach drei Monaten sind unter Aciclovir 71%, ohne Aciclovir 76%, nach neun Monaten unter antiviraler Therapie 85%, ohne das Virustatikum 91% symptomfrei. Unter alleinigem Plazebo sind nach drei Monaten 65% und nach neun Monaten 85% wieder hergestellt.3

Die Studie, die mehr Patienten umfasst als die bisherigen Metaanalysen1,2 zum Thema, erscheint auf den ersten Blick methodisch solide durchgeführt. Die Aussagekraft der Ergebnisse wird jedoch dadurch geschmälert, dass der primäre Endpunkt von den Autoren unkommentiert verändert wird. Laut Protokoll4 war ursprünglich geplant, die Rate der unvollständig geheilten Patienten, das heißt der Patienten mit House-Brackmann-Grad von mindestens 3 zu vergleichen, und nicht - wie jetzt in der Publikation - die Rate der vollständig geheilten Patienten, das heißt derjenigen mit House-Brackmann-Grad 1. Da die moderaten Ausgangswerte der Patienten nicht weit vom Grenzwert des ursprünglich geplanten Endpunktes entfernt sind, liegt der Verdacht nahe, dass hier kein signifikantes Ergebnis erzielt worden ist. Eine Stellungnahme der Autoren auf eine entsprechende Rückfrage des a-t steht aus.

Die Wirksamkeit einer Therapie der BELL'schen Lähmung mit Kortikoiden oder antiviralen Mitteln ist bislang unzureichend belegt.

Eine aktuelle schottische Studie lässt nach drei und neun Monaten einen möglichen Nutzen der zehntägigen Einnahme von Prednisolon (DECORTIN H u.a.) erkennen, nicht jedoch von Aciclovir (ZOVIRAX u.a.), das sogar nachteilig erscheint.

Der unkommentierte Austausch des primären Endpunkts schwächt die Aussagekraft. Ein Therapieversuch mit Prednisolon erscheint uns jedoch gerechtfertigt.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
M1ALLEN, D. et al.: Aciclovir or valaciclovir for Bell's palsy. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2007; Issue 4; Stand März 2004
M2SALINAS, R.A. et al.: Corticosteroids for Bell's palsy. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2007; Issue 4; Stand Juni 2004
R3SULLIVAN, F.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2007; 357: 1598-607
 4Supplementary Appendix zu Lit. 3 oder http://www.dundee.ac.uk/bells/sbps_files/sbps_protocol.rtf

© 2007 arznei-telegramm, publiziert am 9. November 2007

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