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Korrespondenz

ÜBERTRAGUNG VON VARIZELLEN NACH IMPFUNG?

Ihren Artikel "Übertragung von Varizellen nach Impfung" (a-t 2008; 39: 43) habe ich mit Erstaunen gelesen. Sie geben entgegen den bisher von mir stets als gut recherchiert empfundenen Mitteilungen über mögliche Nebenwirkungen hier ausgesprochen unkritisch und oberflächlich eine RKI-Mitteilung wieder. Weder haben Sie die exakten Inkubationszeiten für eine Varizelleninfektion berücksichtigt noch auf die Bestimmung der Antikörper (Wildvirus- versus Impfantikörper) auch nur hingewiesen, dagegen schlussfolgern Sie vorschnell und allgemein auf "künftige Infektionen durch Transmission von Impfviren". Ein mich enttäuschender Bericht, vor allem als Kinderarzt muss ich hier eine trendige Meinungsäußerung vermuten, die schon nahe an einer Anti-Impfdemagogie ist.

Dr. med. D. MÜLLER-BÜHL (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin)
D-63755 Alzenau
Interessenkonflikt: keiner

Zu dem Artikel in a-t 2008; 39: 43, in dem wir den Verdachtsbericht an unser NETZWERK DER GEGENSEITIGEN INFORMATION über eine schwere Windpockenerkrankung eines 31-Jährigen neun Tage nach Impfung seines einjährigen Sohnes gegen Varizellen schildern, erhielten wir mehrere Zuschriften. Daher gehen wir nochmals auf das Thema ein:

In der Tat gibt das Robert Koch-Institut die Inkubationszeit von Windpocken mit 8 bis 28 Tagen an, wobei die Betroffenen bereits ein bis zwei Tage vor Ausbruch der Erkrankung ansteckungsfähig sind.1 Dabei werden die Viren normalerweise über den Respirationstrakt aufgenommen. Über die zeitlichen Abläufe potenzieller Kontagiosität nach Impfung gegen Windpocken ist hingegen recht wenig bekannt. Varizellen-ähnliche Hautausschläge treten laut US-amerikanischer Produktinformation von VARIVAX2 in klinischen Studien besonders innerhalb von 5 bis 26 Tagen nach Immunisierung auf. In einer der entscheidenden Studien zum Nutzen der Vakzine entwickeln 19 (4%) von 468 Impflingen einen generalisierten Varicella-artigen Ausschlag, der bei jedem Vierten sogar in weniger als fünf Tagen in Erscheinung tritt.3 Personen mit Exanthem gelten als potenziell ansteckend, andererseits ist ein Hautausschlag aber nicht Voraussetzung für eine Übertragung. In der oben erwähnten klinischen Studie ließen sich Antikörper gegen Varizellen auch bei einigen zuvor seronegativen Familienangehörigen der Impflinge nachweisen, obwohl bei diesen keine typischen Hautveränderungen entdeckt wurden. Die Autoren diskutieren für einige der Betroffenen die Möglichkeit einer subklinischen Verbreitung des Impfvirus.3

Den US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) liegen ebenfalls Verdachtsmeldungen über Virustransmission mit Ausbruch der Erkrankung bei den Kontaktpersonen innerhalb von zehn Tagen und weniger vor.4 Leider sind Spontanmeldungen oft nicht so gut dokumentiert, wie man es sich wünschen würde. Sowohl in den US-amerikanischen Berichten als auch in der Meldung an das NETZWERK und in zwei weiteren beim Paul-Ehrlich-Institut dokumentierten Verdachtsberichten5 wurden keine Untersuchungen zur Unterscheidung zwischen Impfvirus und Wildvirus durchgeführt. Daher lässt sich bei all diesen Verdachtsberichten letztlich nicht belegen, dass die Erkrankungen durch Impfviren ausgelöst wurden - ebensowenig aber auch, dass es Wildviren waren. Im von uns zitierten Bericht waren im Umfeld des erkrankten Vaters zuvor keine Windpocken aufgetreten. Der Sohn soll keine Varicella-typischen Läsionen entwickelt haben, wurde vom berichtenden Arzt selbst aber nicht gesehen.

In mehreren Literaturberichten über Virustransmission werden bei den erkrankten Kontaktpersonen Impfviren nachgewiesen.6-8 Eine Schwangere, die sich von ihrem geimpften Kind mit Windpocken ansteckt, lässt aus Angst vor einer möglichen Embryopathie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Im fetalen Gewebe wird später kein Virus entdeckt.7

Auf der anderen Seite ist dokumentiert, dass der Schutz der Varizellenimpfung häufig mit der Zeit nachlässt. Dies bedeutet aber, dass als Kinder geimpfte, inzwischen erwachsene Personen wieder für Windpocken empfänglich werden und bei Kontakt mit dem Erreger erkranken können (so genannte Impfdurchbrüche) - beispielsweise mit dem Wildtyp durch ungeimpfte Kinder oder an Gürtelrose erkrankte Erwachsene beziehungsweise mit dem Impfvirus über geimpfte Kinder. Dies könnte unter anderem auch Frauen im gebärfähigen Alter gefährden.9 In den USA wird daher seit Längerem eine Auffrischimpfung empfohlen. Hinreichende klinische Daten zum Nutzen einer Zweitimpfung und zur Dauer des Schutzes nach Boosterung gibt es bislang aber nicht (a-t 2007; 38: 39).

Befürworter einer allgemeinen Impfung gegen Varizellen verweisen immer wieder auf mögliche schwere Komplikationen oder tödliche Verläufe der Erkrankung. Die selben Komplikationen, die bei Infektion mit dem Wildvirus auftreten können, sind jedoch auch in Verbindung mit der Impfung beschrieben, beispielsweise Lungenentzündung, Thrombopenie mit Petechien, Hepatitis, neurologische Störwirkungen einschließlich Ataxie, Krampfanfällen und Schlaganfall sowie zum Teil schwere bakterielle Superinfektionen und tödliche Varizellensepsis.10,11 Schwer verlaufende Windpocken bei zuvor nicht bekannter Immunschwäche können ebenfalls sowohl nach Infektion mit dem Wildvirus als auch nach Impfung auftreten.12,13 Wie häufig nach der Impfung mit schweren Komplikationen zu rechnen ist, bleibt angesichts der Datenbasis (Spontanmeldungen) offen. In den Fachinformationen von VARIVAX14 und VARILRIX15 heißt es für die dort aufgeführten Ereignisse lediglich, dass es keine Hinweise darauf gäbe, dass diese nach Impfung häufiger seien als bei Erkrankung durch den Varizella-Wildtyp, -Red.

  (R = randomisierte Studie)
 1RKI-Ratgeber Infektionskrankheiten - Merkblätter für Ärzte: Varizellen; Stand Aug. 2006
 2Merck & Co: US-amerikanische Produktinformation VARIVAX, Stand Febr. 2007
R3WEIBEL, R.E. et al.: N. Engl. J. Med. 1984; 310: 1409-15
 4National Vaccine Information Center: Vaccine Adverse Events Reporting System (VAERS) Datenbank; zu finden unter http://www.medalerts.org/
 5Paul-Ehrlich-Institut: Schreiben vom 12. Febr. 2008
 6La RUSSA, P. et al.: J. Infect. Dis. 1997; 176: 1072-5
 7SALZMAN, M.B. et al.: J. Pediatr. 1997; 131: 151-4
 8GROSSBERG, R. et al.: J. Pediatr. 2006; 148: 842-4
 9GIUSTI, R.J.: N. Engl. J. Med. 2003; 348: 1405
 10WISE, R.P. et al.: JAMA 2000; 284: 1271-9
 11WIRRELL, E. et al.: J. Pediatr. 2004; 145: 845-7
 12LEVY, O. et al.: J. Infect. Dis. 2003; 188: 948-53
 13GHAFFAR, F. et al.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2000; 19: 764-6
 14Sanofi Pasteur MSD: Fachinformation VARIVAX, Stand Juni 2007
 15GlaxoSmithKline: Fachinformation VARILRIX, Stand Febr. 2007

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 18. April 2008

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