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METHYLPHENIDAT (MEDIKINET ADULT) BEI ERWACHSENEN MIT ADHS?

Mit MEDIKINET ADULT wird jetzt erstmals ein Methylphenidatpräparat zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) bei Erwachsenen angeboten.1 ADHS-Symptome sollen zumindest bei einem Teil der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter persistieren. Laut Nachbeobachtungsstudien haben 15% der Patienten mit ADHS-Diagnose im Kindesalter auch noch mit 25 Jahren eine voll ausgeprägte anhaltende Symptomatik, bei weiteren 50% sollen die Symptome dann noch partiell vorhanden sein.2 ADHS im Erwachsenenalter wird unter anderem mit geringerem Ausbildungsgrad, höheren Raten von Arbeitslosigkeit, Verkehrsdelikten und strafrechtlichen Verurteilungen in Verbindung gebracht.3 Die Frage, ob ADHS insbesondere auch bei Erwachsenen eine valide Diagnose darstellt, ist jedoch nach wie vor umstritten. Gründe für die Zweifel sind unter anderem die Schwierigkeiten, auf der Basis der unspezifischen, auch in der allgemeinen Bevölkerung vorkommenden Verhaltensweisen ein klinisches Krankheitsbild abzugrenzen, auch vor dem Hintergrund, dass bei Erwachsenen mit ADHS-Diagnose sehr häufig gleichzeitig andere besser etablierte psychische Erkrankungen vorliegen.4 Die Verworrenheit dürfte auch darin zum Ausdruck kommen, dass der ICD 10* in Deutschland die Diagnose bei Erwachsenen gar nicht kennt.5 Das dem Betäubungsmittelgesetz unterliegende MEDIKINET ADULT darf nur als Reservemittel im Rahmen einer „therapeutischen Gesamtstrategie”, wenn sich andere Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben, und nur unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen verordnet werden.1

* ICD 10 = Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision

EIGENSCHAFTEN: Die Amphetaminvariante Methylphenidat wirkt als zentrales Psychostimulans und indirektes Sympathomimetikum. Seine pharmakologischen Eigenschaften entsprechen im Wesentlichen denen der Amphetamine. Der Wirkmechanismus bei ADHS ist nicht genau bekannt. Diskutiert wird ein durch Methylphenidat bedingter Anstieg der intrasynaptischen Konzentration von Dopamin und Noradrenalin im frontalen Kortex und in subkortikalen Hirnregionen, die mit Motivation und Belohnung assoziiert sind.6,7

MEDIKINET ADULT besteht aus zwei Komponenten: einer schnell freisetzenden und einer retardierten (jeweils 50% der Dosis).1

KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Zwei randomisierte plazebokontrollierte doppelblinde Phase-III-Studien8,9 liegen der Zulassung zu Grunde.10 Sie wurden von der selben Arbeitsgruppe ausschließlich in Deutschland durchgeführt. In der größeren der beiden (EMMA**-Studie) werden 363 erwachsene Patienten ein halbes Jahr lang behandelt,8 die kleinere (QUMEA**-Studie) mit 162 erwachsenen Patienten geht über acht Wochen.9 Die Studienteilnehmer sind im Mittel 34 bis 38 Jahre alt und haben eine ADHS-Diagnose gemäß den Kriterien des amerikanischen DSM IV***.8,9 Die Liste der Ausschlusskriterien ist lang und umfasst unter anderem Bluthochdruck, kardiovaskuläre und psychische Erkrankungen wie Psychose, Tic oder akute Depression sowie Epilepsie.11,12 In EMMA wird das Studienpräparat über fünf Wochen bis zu einer Maximaldosis von 60 mg pro Tag titriert. In Woche 24 nehmen die Teilnehmer der Verumgruppe pro Kilogramm Körpergewicht (KG) eine durchschnittliche Dosis von 0,55 mg ein. In QUMEA wird über zwei Wochen titriert, Maximaldosis ist 1 mg/kg KG, Durchschnittsdosis in Woche acht 0,9 mg/kg KG. Primärer Endpunkt ist jeweils der Gesamtpunktwert auf einer Skala zur ADHS-Symptomatik (WRAADDS****) bei Studienschluss.8,9

** EMMA = Erwachsene mit MPH bei ADHS
QUMEA = Quality Assurance of Administering Methylphenidate in Adults With Attention Deficit Hyperactivity Disorder
*** DSM IV = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, Version IV von 1994
**** WRAADDS = WENDER-REIMHERR-Adult-Attention-Deficit-Disorder-Skala; umfasst 28, durch den Interviewer bewertete Fragen in sieben Bereichen, neben Fragen zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, die als Schlüsselsymptome des ADHS gelten, gibt es Fragen zum Temperament, zu Stimmungsschwankungen, Desorganisation und emotionaler Überreagibilität, jede Frage kann mit 0 (= nicht vorhanden) bis 2 (= ausgeprägt) Punkten beantwortet werden, insgesamt 0 bis 56 Punkte

Die Ergebnisse sind zum Teil nur graphisch dargestellt. In beiden Studien wird der primäre Endpunkt unter Methylphenidat signifikant besser beeinflusst als unter Plazebo. Offen bleibt, ob relevante Effekte erzielt wurden. Den Angaben zur Effektstärke*****, die in EMMA im primären Endpunkt 0,39, unter der höheren Dosis in QUMEA 0,54 beträgt8,9 und die damit allenfalls klein bis mäßig ist, fehlen Konfidenzintervalle, deren untere Grenze oberhalb von 0,2 liegen sollte, damit ein vernachlässigbarer Effekt sicher ausgeschlossen ist.13 Dies gilt auch für die als sekundärer Endpunkt anhand der CAARS-S:L****** geprüfte Selbstbeurteilung der Symptomatik durch die Teilnehmer. Sie wird signifikant, aber mit Effektstärken von 0,28 (EMMA) bzw. 0,44 (QUMEA)8,9 allenfalls geringfügig verbessert.

***** Effektstärke = COHEN’S d, Differenzmaß, misst Mittelwertsunterschiede, Differenzen unter d = 0,2 gelten als vernachlässigbar, ab 0,5 als mittel, ab 0,8 als groß.
****** CAARS-S:L = CONNERS’ Adult ADHD Rating Scale Self Report Long Form; umfasst 66 Fragen, davon 18 zur ADHS-Psychopathologie laut DSM-IV, die jeweils mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden.

Wie sich die Behandlung mit Methylphenidat langfristig auswirkt, zum Beispiel auch auf die berufliche Laufbahn oder die Lebensqualität, ist nicht bekannt. Die in der Fachinformation für den einzelnen Patienten geforderte Überprüfung des „langfristigen Nutzens” durch mindestens jährliche Absetzversuche1 kann die fehlenden kontrollierten Langzeitstudien nicht ersetzen.

UNERWÜNSCHTE EFFEKTE: Zu den in den Zulassungsstudien am häufigsten berichteten unerwünschten Effekten, von denen rund 25% bis 50% der Anwender betroffen sind, gehören Appetitverlust, Mundtrockenheit, exzessives Durstgefühl, Schlafstörungen und Kopfschmerzen (Plazebo: 10% bis 20%). Sehr häufig (≥ 10%) kommen auch Palpitationen, vermehrtes Schwitzen, Schwindel, Menstruationsstörungen und Libidominderung vor.8,9 Laut Fachinformation sind unter der Anwendung auch Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall häufig (≥ 1%).1 Methylphenidat kann die Krampfschwelle senken und psychiatrische Störungen hervorrufen oder verstärken.14 Häufig kommt es zu amphetamintypischen Effekten wie Unruhe, Angst, Aggression oder Depression, gelegentlich (≥ 0,1% bis < 1%) auch zu Halluzinationen, psychotischen Störungen oder Suizidalität.1

Methylphenidat kann Blutdruck und Herzfrequenz steigern und wird mit Herzrhythmusstörungen, QT-Verlängerung, Myokardinfarkt, Schlaganfall und sehr selten mit plötzlichem Herztod in Verbindung gebracht. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat in den vergangenen Jahren vor allem kardiovaskuläre Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit Methylphenidat überprüft und Änderungen der Fachinformationen gefordert.1,14 Die entsprechenden Warnhinweise und Anwendungsvorschriften wurden auch in die Fachinformation für Erwachsene aufgenommen. Kardiovaskulärer und psychischer Status müssen vor Behandlungsbeginn umfassend erhoben und während der Therapie kontinuierlich überwacht werden. Vorbestehende Herz-Kreislauf- und schwere psychiatrische Erkrankungen gehören zu den Gegenanzeigen.1

National wie international wurden im vergangenen Jahrzehnt drastisch steigende Verordnungszahlen für Methylphenidat verzeichnet.15 In Deutschland ist der Methylphenidatverbrauch zwischen 1993 und 2010 um das 52-Fache gestiegen (siehe Abbildung).16 Wie Amphetamine kann Methylphenidat Abhängigkeit erzeugen, besonders schnellfreisetzende Zubereitungen.1 Missbrauch und Abzweigen für den Schwarzmarkt ist beschrieben. Aus einer Gegend in Großbritannien mit hohen Verordnungszahlen wird über häufigen Missbrauch von Methylphenidat als illegale Droge berichtet, der hier bei jungen Leuten bereits an zweiter Stelle nach Cannabis rangiert.17

KOSTEN: 50 Kapseln zu 20 mg MEDIKINET ADULT werden für 43,24 € angeboten. Eine vierwöchige Behandlung mit dem Präparat kostet bei Tagesdosis von 40 mg 48,43 €.

∎  Mit MEDIKINET ADULT ist jetzt erstmals ein Methylphenidatpräparat zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) bei Erwachsenen im Handel.

∎  Ob ADHS, insbesondere auch bei Erwachsenen, überhaupt eine valide Krankheitsentität darstellt, ist jedoch nach wie vor umstritten.

∎  In kontrollierten Zulassungsstudien bei Erwachsenen mit ADHS-Diagnose ist Methylphenidat über höchstens sechs Monate geprüft. Es hat dabei allenfalls geringe (bis mäßige) Effekte auf Skalen zur ADHS-Symptomatik.

∎  Die Amphetaminvariante geht mit einer hohen Rate unerwünschter Wirkungen einher, vor allem Appetitverlust, Mundtrockenheit, Schlafstörungen und Kopfschmerzen.

∎  Wie Amphetamine kann Methylphenidat Abhängigkeit erzeugen.

∎  Das Mittel wird mit schwerwiegenden kardiovaskulären und psychiatrischen Störungen in Verbindung gebracht, selten auch mit plötzlichem Tod.

∎  Wie bei Kindern sind auch bei Erwachsenen Langzeitnutzen und -sicherheit nicht nachgewiesen.

∎  Beim derzeitigen Kenntnisstand bewerten wir die Nutzen-Schaden-Bilanz von MEDIKINET ADULT als negativ.

  (R =randomisierte Studie)
1 Medice: Fachinformation MEDIKINET ADULT, Stand Apr. 2011
2 FARAONE, S.V. et al.: Psychol. Med. 2006; 36: 159-65
3 ASHERSON, P. et al.: BMJ 2010; 340: 736-7
4 MONCRIEFF, J., TIMIMI, S.: BMJ 2010; 340: 736-7
5 ICD-10-GM Version 2011, F90: Hyperkinetische Störungen; http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2011/block-f90-f98.htm
6 WESTFALL, T.C., WESTFALL, D.P., in: BRUNTON, L.L. et al. (Hrsg.): GOODMAN & GILMAN’S. The Pharmacological Basis of Therapeutics. 12. Auflage, McGraw-Hill, New York 2011, Seite 299
7 National Institute for Health and Clinical Excellence: Attention Deficit Hyperactivity Disorder, The NICE Guideline on Diagnosis and Management of ADHD in Children, Young People and Adults, 2009 http://www.nice.org.uk/nicemedia/live/12061/42060/42060.pdf
R  8 RÖSLER, M. et al.: Eur. Arch. Psychiatry Clin. Neurosci. 2009; 259: 120-9
R  9 RETZ, W. et al.: World J. Biol. Psychiatry 2010, online publ. am 14. Dez. 2010
10 BfArM: Öffentlicher Bewertungsbericht MEDIKINET ADULT, 18. Juli 2011; https://portal.dimdi.de/amispb/doc/2011/07/25/2163890/OBFMBD5B836E01CC4AAA.rtf
11 Medice: Placebo-Controlled Multi-Centre Double-Blind Trial for Adults With Extended-Release Methylphenidate for ADHD (EMMA), Stand Feb. 2008; http://www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00619840
12 Medice: Quality Assurance of Administering Methylphenidate in Adults With Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD)-QUMEA, Stand Jan. 2010; http://www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00730249
13 IQWiG: Allgemeine Methoden, Entwurf für Version 4.0 vom 9. März 2011 https://www.iqwig.de/download/IQWiG_Entwurf_Methoden_Version_4-0.pdf
14 EMA: Wissenschaftliche Schlussfolgerungen und Begründung der EMEA für die Änderung der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels und der Packungsbeilage (Methylphenidat-haltiger Produkte), Mai 2009 http://www.bfarm.de/cae/servlet/contentblob/1020080/publicationFile/794 75/methylphenidat_ke_annex.pdf
15 SINGH, I.: Nat. Rev. Neuroci. 2008; 9: 957-64
16 BfArM, Bundesopiumstelle: Verbrauchsstatistik Methylphenidat
17 SUMNALL, H.R. et al.: BMJ 2008; 337: 1011

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 14. Oktober 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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