GEPLANTE EU-VERORDNUNG FÜR STUDIEN
…weniger Bürokratie, weniger Ethik, weniger Patientenschutz
Im Juli 2012 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine neue Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln veröffentlicht,1 der seither in Deutschland von allen politischen Parteien,2,3 Ethikkommissionen4 und ärztlichen Standesorganisationen5 heftig kritisiert wird. Erklärtes Ziel der geplanten Neuregelung ist es, das bisherige Verfahren schneller, einfacher und kostengünstiger zu gestalten, um die EU als Standort für klinische Forschung zu stärken. Entsprechend ist der Vorschlag geprägt durch Zentralisierung, Harmonisierung und Fristverkürzungen. Für diese Zwecke wird auf eine Beteiligung unabhängiger Ethikkommissionen verzichtet, die pluralistische Bewertungsmöglichkeit beschnitten und ein geringeres Schutzniveau der Studienteilnehmer in Kauf genommen.
Grundlage der derzeitigen Regelungen für Arzneimittelprüfungen am Menschen ist die EU-Richtlinie 2001/20/
EG,6 die mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes und der Verordnung zur Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Arzneimittelprüfungen (GCP-Verordnung) im August 2004 in nationales Recht umgesetzt wurde.7 Seither muss jeder an einer Arzneimittelprüfung beteiligte EU-Mitgliedstaat ein einziges, national verbindliches Votum zur Vertretbarkeit des Prüfvorhabens durch eine unabhängige, interdisziplinär besetzte Ethikkommission erstellen. Hat die national zuständige Ethikkommission nicht zustimmend bewertet, darf die Prüfung in dem betreffenden EU-Staat nicht durchgeführt werden. Im Sinne eines zweigleisigen Verfahrens muss daneben und unabhängig hiervon auch die Genehmigung der national zuständigen Oberbehörde vorliegen.
In Deutschland erstellen nach Landesrecht gebildete, durch Landesärztekammern, Universitäten oder durch Landesregierungen selbst eingerichtete Ethikkommissionen das Ethikvotum. Für das nationale Votum zur grundsätzlichen Vertretbarkeit einer Prüfung ist diejenige Ethikkommission zuständig, in deren Bereich der Leiter der klinischen Prüfung für Deutschland tätig ist. Wird eine Arzneimittelprüfung an mehreren Zentren durchgeführt, sind an der Erstellung des Votums weitere Ethikkommissionen beteiligt, die die Eignung der Prüfzentren und Qualifikation der Prüfärzte beurteilen. Die Alleinverantwortung für das Votum zur Vertretbarkeit der Prüfung liegt bei der zuständigen federführenden Ethikkommission, für die Beurteilung der Prüfzentren und Prüfärzte bei den beteiligten lokalen Kommissionen. Die lokalen Ethikkommissionen müssen der federführenden ihre Voten innerhalb von 30 Tagen nach Eingang der Unterlagen mitteilen, die federführende hat das nationale Votum innerhalb von 60 Tagen zu erstellen. Die Nachreichung und/oder Vervollständigung von Unterlagen können diese Fristen verlängern, bei monozentrischen Prüfungen gilt eine Frist von 30 Tagen.
Vorangetrieben durch den Arbeitskreis der Ethikkommissionen in Deutschland hat sich bei der Zusammenarbeit zwischen federführenden und lokalen Ethikkommissionen ein Mitberatungsverfahren etabliert und mittlerweile ausgesprochen bewährt. Die lokalen Kommissionen können ihr Votum zu den Prüfzentren und Prüfärzten durch eine eigene Bewertung der Vertretbarkeit des Prüfvorhabens ergänzen. Diese Bewertungen der lokalen Kommissionen haben beratenden Charakter, die federführende Ethikkommission ist nicht verpflichtet, sie zu übernehmen oder zu beachten. De facto beteiligt sich jeweils ein relevanter Anteil der lokalen Ethikkommissionen am Mitberatungsverfahren, und ihre Kommentare werden in aller Regel von der federführenden Kommission berücksichtigt. Auf diese Weise ist es in Deutschland gelungen, bei der Erstellung nationaler Voten zu Arzneimittelprüfungen ein Vier-Augen-Prinzip aufrecht zu erhalten.
Der Vorschlag für die neue EU-Verordnung 2012/0192 (COD) für Arzneimittelprüfungen sieht vor, dass die Bewertung der Vertretbarkeit einer klinischen Prüfung künftig durch nur einen "berichterstattenden" Mitgliedstaat erfolgt. Dieser wird vom Sponsor der Prüfung (in der Regel der pharmazeutische Unternehmer) ausgesucht und bestimmt. Die Bewertung der Vertretbarkeit umfasst wesentliche Aspekte wie Eigenschaften und Qualität des Prüfpräparates, Relevanz der Prüfung hinsichtlich des aktuellen Wissensstands, Methodik, Biometrie und Überwachungsmaßnahmen sowie die Beurteilung der Risiken für die Teilnehmer in Relation zum individuellen und Allgemeinnutzen. Sie soll "von einer angemessenen Anzahl Personen gemeinsam vorgenommen" werden. Zusammensetzung und Arbeitsweise dieses Gremiums können die Mitgliedstaaten zwar selbst ausgestalten; da eine von der behördlichen Genehmigung getrennte Beurteilung nicht mehr möglich ist, bedeutet dies aber das Aus einer Bewertung der Prüfungen durch unabhängige Ethikkommissionen. Der Begriff Ethikkommission taucht im Verordnungsentwurf folglich an keiner Stelle auf, das Gremium verfasst einen Bewertungsbericht und kein Ethikvotum. Der Verzicht auf unabhängige Ethikkommissionen bedeutet die Abkehr von einem international anerkannten, unstrittigen Standard für die Forschung mit Menschen, der sich in langen Jahren über die Anordnung des preußischen Kultusministeriums 1900, den Nürnberger Kodex 1947 und die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes ab 1964 bis zur aktuellen EU-Richtlinie im Jahr 2004 herausgebildet hat.
Die Mitwirkmöglichkeit weiterer, "betroffener" Mitgliedstaaten bei solchen Arzneimittelprüfungen, die in mehreren EU-Staaten durchgeführt werden, ist äußerst begrenzt und faktisch aufgehoben. Schon der berichterstattende Mitgliedstaat muss innerhalb von sechs Tagen die Vollständigkeit der Antragsunterlagen bestätigen und innerhalb weiterer zehn bis 30 Tage den Bewertungsbericht erstellen. Nur innerhalb dieser 10 bis 30 Tage dürfen die betroffenen Mitgliedstaaten dem berichterstattenden "Anmerkungen zum Antrag übermitteln", die letzterer "gebührend" berücksichtigen muss. Was hierunter zu verstehen ist, ist völlig offen. Wegen der kurzen Frist bleibt aber ohnehin keine Zeit für eine fundierte wissenschaftliche Diskussion offener Fragen. Es ist auch nicht vorgesehen, dass die betroffenen Mitgliedstaaten den Sponsor um weitere Erläuterungen bitten können.
Die Zuständigkeit betroffener Mitgliedstaaten beschränkt sich darauf, innerhalb von zehn Tagen zu prüfen, ob die Anforderungen hinsichtlich informierter Einwilligung, Probandenversicherung, Eignung der Prüfer und Prüfstellen, Umgang mit biologischem Material und Vergütung von Prüfern und Probanden für sein Hoheitsgebiet erfüllt sind. Trifft dies nicht zu, können sie die Studie trotz positiven Bewertungsberichts des berichterstattenden Mitgliedstaates ablehnen. Ansonsten ist der Bewertungsbericht für die betroffenen Mitgliedstaaten grundsätzlich bindend, auch bei abweichender Bewertung etwa von Relevanz, Design, Biometrie und Nutzen-Schaden-Relation der Prüfung. Eine Ablehnung ist dann nur noch erlaubt, wenn bei Durchführung der Prüfung gegen nationale Rechtsvorschriften verstoßen würde oder Probanden eine schlechtere Behandlung als "gemäß normaler klinischer Praxis" erhalten würden. Was dies genau bedeutet, ist unklar; eine Behandlung gemäß Standard im betroffenen Mitgliedstaat soll aber offenbar nicht einforderbar sein. Die Verfahren bei den berichterstattenden und den betroffenen Mitgliedstaaten können zeitlich entkoppelt werden: Der Sponsor kann so zunächst den Bewertungsbericht erstellen lassen und sich anschließend weitere Mitgliedstaaten aussuchen, die die Prüfung inhaltlich dann gar nicht mehr kommentieren können.
Die derzeitige EU-Richtlinie 2001/20/EG formuliert für das Schutzniveau der Probanden nur Mindeststandards, die auf nationaler Ebene verschärft werden können. In Deutschland ist dies im Rahmen der noch gültigen GCP-Verordnung für besonders vulnerable Probandengruppen umgesetzt worden. Der jetzige Verordnungsvorschlag sieht diese Regelung nicht mehr vor. Für Minderjährige und nicht einwillligungsfähige Erwachsene müsste hierzulande künftig ein geringeres Schutzniveau als bisher akzeptiert werden. So müssten bei Prüfungen mit Kindern, die keinen individuellen, sondern nur einen so genannten Gruppennutzen erwarten lassen, die Risiken und Belastungen nur "so gering wie möglich" sein, statt dass die bislang geltende absolute Schwelle minimaler Risiken und Belastungen einzuhalten wäre. Einsichts- und einwilligungsfähige Minderjährige (beispielsweise auch Jugendliche) könnten grundsätzlich auch gegen ihren ausdrücklichen Widerspruch in Prüfungen aufgenommen werden. Die Teilnahme Minderjähriger an nur gruppennütziger Forschung mit Diagnostika und Prophylaktika wäre anders als heute erlaubt. Bei klinischen Prüfungen in Notfällen könnten einwilligungsfähige volljährige Personen ggf. ohne vorherige Information und Einwilligung einbezogen werden, selbst wenn die Prüfung rein fremdnützig sein sollte. Eine Absenkung des Schutzniveaus fände auch bei der Sicherheitsüberwachung und -berichterstattung statt, beispielsweise für unerwartete schwerwiegende Nebenwirkungen.
Der Deutsche Bundestag hat sich am 31. Januar 2013 mit dem Vorschlag befasst.8 Er wird von allen Fraktionen mit gleich lautenden Argumenten zurückgewiesen.2,3 Kernpunkte der Forderungen nach einer Überarbeitung sind Sicherstellung des gegenwärtigen Schutzniveaus vor allem für vulnerable Personengruppen, entscheidungsrelevante Einbeziehung unabhängiger Ethikkommissionen, Beteiligung aller betroffenen Mitgliedstaaten am Genehmigungsverfahren und Einräumen praktikabler Fristen. Auch seitens des Umwelt- und Gesundheitsausschusses des Europäischen Parlaments hat sich eine Initiative mit ähnlichen, teils darüber hinausgehenden Forderungen gebildet.9 Bis Juni dieses Jahres soll der Vorschlag vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Rat abschließend beraten sein. Es steht zu befürchten, dass den wirtschaftlichen Interessen Vorrang gegenüber elementaren Patienteninteressen eingeräumt wird und wesentliche Änderungen unterbleiben.
© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 15. März 2013
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