Knochenwachstumsfaktor Dibotermin alfa (INDUCTOS) – bezahlte Meinungsbildner, Ghostwriting, Datenmanipulation sowie unzureichende Nutzenbelege
Dibotermin alfa (INDUCTOS) ist ein gentechnisch produziertes menschliches Knochen-Morphogeneseprotein. Das 3.700 € teure Präparat soll bei Erwachsenen mit degenerativen Bandscheibenerkrankungen eine autologe Knochentransplantation ersetzen und in Verbindung mit einer Matrix aus Rinderkollagen eine Fusion von Lendenwirbeln bewirken. Ferner ist es auch bei akuten Frakturen der Tibia Erwachsener zugelassen. Schon kurz nach Markteinführung in den USA vor gut zehn Jahren wurde der Knochenwachstumsfaktor als „neuer Goldstandard” hochgejubelt und seine Bedeutung sogar mit der von Penizillin oder der Polioimpfung verglichen (CARRAGEE, E.: Pressemitteilung des The Spine Journal, 17. Juni 2013). Inzwischen ist klar, dass beteiligte Meinungsbildner auf der Gehaltsliste des Anbieters Medtronic standen. Zwischen 1996 und 2010 soll die Firma etwa 210 Mio. Dollar an ärztliche Autoren der von ihr gesponserten Studien gezahlt haben – für Beratung, Lizenzen und sonstige Vereinbarungen. Nach Untersuchungen des US-amerikanischen Senats war Medtronic daran beteiligt, Fachartikel zu Dibotermin alfa zu entwerfen, zu redigieren und auszugestalten, ohne dass die Autorenschaft beziehungsweise die substanzielle Beteiligung der Firma aus den Veröffentlichungen hervorgeht. Ein E-Mail-Schriftwechsel lässt erkennen, dass Angestellte von Medtronic von der Veröffentlichung einer vollständigen Aufstellung unerwünschter Ereignisse in Verbindung mit dem Knochenwachstumsfaktor abgeraten haben (US Senate Committee on Finance: Baucus-Grassley Investigation into Medtronic Reveals Manipulated Studies, Close Financial Ties with Researchers, Pressemitteilung vom 25. Okt. 2012). Nachdem Zweifel an Wirksamkeit und Sicherheit von Dibotermin alfa öffentlich diskutiert und Vorwürfe von Datenmanipulationen und selektivem Publizieren laut wurden, stimmte Medtronic unter dem zunehmenden öffentlichen Druck zu, dass zwei unabhängige Forschergruppen alle relevanten klinischen Daten einschließlich individueller Patientendaten auswerten und die Ergebnisse publizieren (KRUMHOLZ, H.M. et al.: Ann. Intern. Med. 2013; 158: 910-1). Beide Metaanalysen bestätigen jetzt – auf zum Teil unterschiedlicher Datenbasis – die Vorbehalte gegen den Knochenwachstumsfaktor zur Fusion von Lendenwirbeln. Die umfangreichere Metaanalyse findet keinen Beleg für einen klinischen Vorteil von Dibotermin alfa gegenüber autologer Knochentransplantation, jedoch beträchtliche Belege für Bias. Nach 24 Monaten fällt zudem – für einen Wachstumsfaktor nicht ungewöhnlich – eine erhöhte Krebsrate auf (Risk Ratio [RR] 3,45; 95% Konfidenzintervall [CI] 1,98-6,00). Allerdings sind die Ereignisraten insgesamt gering und die Karzinome heterogen (FU, R. et al.: Ann. Intern. Med. 2013; 158: 890-902). Die zweite Metaanalyse signalisiert ebenfalls eine erhöhte Krebsrate, hier jedoch nicht signifikant (RR 1,98; 95% CI 0,86-4,54). Underreporting von unerwünschten Wirkungen wird bestätigt (SIMMONDS, M.C. et al.: Ann. Intern. Med. 2013; 158: 877-89). Beide Arbeitsgruppen schätzen die Qualität der ausgewerteten Studien als dürftig ein. Dibotermin alfa erachten wir als klassisches Beispiel für ein Produkt, mit dem der Anbieter durch Sponsoring, Ghostwriting und Datenmanipulation gigantische Umsatzerlöse erzielt hat – immerhin bis zu fast 1 Milliarde Dollar pro Jahr –, ohne dass sich hierfür ein Vorteil in der Fusionschirurgie nachweisen lässt, – Red.
© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 5. Juli 2013
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