Medikamentenbeipackzettel werden immer umfangreicher. Rechtsabteilungen von Pharmafirmen bemühen sich, neuaufkommende Erkenntnisse
über Zwischenfälle in die Gebrauchsinformation für den Patienten aufzunehmen, damit der pharmazeutische Unternehmer seiner
"Instruktionspflicht" zur Risikoaufklärung genügt und aus der Haftung nach § 84 AMG entlassen wird. Wer vermag den Inhalt von bis zu
zwei engbedruckten DIN-A4-Seiten mit Verständnis aufzunehmen? Am Umfang der Wissens-Abwehr-Spirale scheitert letztlich das Informationsziel: der richtige
Gebrauch des Arzneimittels.
Nach eigener Aussage bemüht sich das Bundesgesundheitsamt laufend um Verbesserung der Patienteninformation.1 Sie soll verständlicher
werden, ohne daß auf Genauigkeit und Vollständigkeit verzichtet wird. Künftig soll der Abschnitt "Nebenwirkungen" der Waschzettel
neuzugelassener Arzneimittel Angaben enthalten, die das Ausmaß des Risikos besser erkennen lassen:
In der Packungsbeilage wird zwischen Einzelfällen, seltenen (unter 1%), gelegentlichen (1% bis zu 10%) und
häufigen (über 10%) Nebenwirkungen unterschieden.
Das Vorhaben scheint löblich. So vermag der medizinische Laie in Verbindung mit der Häufigkeit der jeweiligen Nebenwirkung besser
abzuschätzen, was ihn tatsächlich betreffen kann. Allerdings nimmt das BGA die internationalen Standards zu Häufigkeitsangaben
unerwünschter Reaktionen nicht so ernst. International, etwa in den USA oder in Schweden, gelten folgende Definitionen:
Häufig vorkommende Störwirkungen sind in diesen Ländern solche, die mehr als 1% der Patienten betreffen.
Gelegentlich sind solche, die bei jedem 100. bis 1.000. Patienten (0,1% bis 1%) vorkommen. Als selten wird dann eine Störwirkung verstanden,
wenn das Risiko kleiner als 1 : 1.000 (unter 0,1%) ist, also den Promillebereich betrifft.
Die Häufigkeitsangaben werden aus kontrollierten klinischen Prüfungen oder aus Erhebungen anderer Art abgeleitet.2 Diese Einstufung ist
seit Jahren Grundlage für Häufigkeitsangaben im von uns herausgegebenen transparenz-telegramm. Auch im deutschen "Lehrbuch der
Pharmakologie" von FORTH et al. wird eine ähnliche Einstufung vorgenommen.3
Die nun für Deutschland geltende Neuregelung im Beipackzettel von Arzneimitteln untertreibt im internationalen Maßstab um den Faktor 10. Für die
Interessen industrieller Anbieter bringt diese "Verbesserung der Beipackzettel" unbestrittenen Nutzen, weil die Häufigkeitstermini aus nicht in Prozent
definierten abstrakten Begriffen bestehen und dem Kranken dort Unbedenklichkeit suggeriert wird, wo Skepsis, gemessen an der Häufigkeit einer
unerwünschten Reaktion, angezeigt wäre.
Wenn zwei bis fünf von hundert Verwendern eines gegen eine Infektion eingenommenen Gyrasehemmers Unverträglichkeiten im Bereich des zentralen
Nervensystems zeigen, so handelt es sich nach BGA-Definition um "gelegentliche Nebenwirkungen". Erhält derselbe Patient ein inhaltsgleiches
Präparat in Schweden oder in den USA, wird das Risiko dort als "häufig" dimensioniert.
Neue Arzneimittel kommen mit dem Wissen von gestern in den Handel. Die Häufigkeit des nach ACE-Hemmern oft vorkommenden Hustens betrug in der
klinischen Erprobung der Nachlastsenker nur etwa 3%. Die nach internationalem Standard häufige Nebenwirkung gelangt nach der BGA-Regel in den Bereich
des Gelegentlichen. Nach heutigem Kenntnisstand liegt die Häufigkeit zwischen 10 und 20%. Somit sind etwa 70.000 bis 140.000 Patienten vom ACE-
Hemmer-Husten betroffen.
Das "Grippe"-ähnliche Immunsyndrom nach Nomifensin (ALIVAL, in PSYTON) trat mit einer Häufigkeit von über 1% auf. Die Schwere der
Störwirkungen führte 1986 zum weltweiten Rückzug des Mittels. Das Syndrom würde aber nach heutiger BGA-Definition als
"gelegentliche" Nebenwirkung beschrieben, während in den USA, in England oder in Schweden diese zu Recht als "häufige"
Störwirkung klassifiziert worden wäre.
FAZIT: Wir möchten nicht mißverstanden werden: Prägnantere und verständlichere Beipackzettel sind wünschenswert. Von
Pseudoinformationen und Fehldimensionierungen sind sie jedoch freizuhalten. Die vom Bundesgesundheitsamt als "Verbesserung der Beipackzettel"
bezeichnete Sprachregelung entspricht im internationalen Vergleich einer Abwertung unerwünschter Arzneimittelwirkungen um den Faktor 10.
Die Verquickung von juristisch notwendiger Aufklärung und medizinisch sinnvoller Information im Beipackzettel kann zum Dissens führen. Fachkreise
benötigen anders strukturierte Informationen als medizinische Laien.
1 | bga-pressedienst 14/1991 |
2 | FASS-Liste 1991, Seite 1219 |
3 | FORTH, W. et al.: "Lehrbuch der Pharmakologie", Wissenschaftsverlag
Mannheim, 5. Aufl. 1987, Seite 88 |
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