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                            a-t 1991; Nr. 9: 74-5nächster Artikel
Im Blickpunkt

HINTERGRUND:
MIKROPILLEN FEMOVAN/MINULET UND KEIN ENDE

Über den Verdacht, daß Gestoden-haltige orale Kontrazeptiva (FEMOVAN, MINULET) zu einer erhöhten Rate an thromboembolischen Ereignissen führen, haben wir mehrfach berichtet (vgl. a-t 3 [1989], 29; 5 [1989], 50; 8 [1989], 77; 5 [1990], 50 u.a.). Als Ursache wird eine im Vergleich zu anderen Gestagenen verstärkte Hemmwirkung von Gestoden auf Schlüsselenzyme des Arzneimittelabbaus (Cytochrom P-450) vermutet, die sich experimentell nachweisen läßt1,2 und die zu einer Behinderung des Abbaus von Ethinylestradiol (EE) führen könnte. Daraus kann eine erhöhte EE-Verfügbarkeit bei FEMOVAN-Verwenderinnen resultieren.3 Eine Korrelation zwischen Höhe des Estrogengehalts in oralen Kontrazeptiva (OK) und der Häufigkeit thromboembolischer Ereignisse auch bei jungen Anwenderinnen wurde in epidemiologischen Studien bestätigt4,5 und ist Stand der Kenntnis auch in der Fachinformation von FEMOVAN.

Im Jahre 1989 wurden für FEMOVAN bei 2,5 Millionen (Mio) Verordnungen 27 Lungenembolien (BGA: 30 Fälle) und 27 zerebrale Insulte (BGA: 28 Fälle) berichtet, für MARVELON, das als Gestagen Desogestrel enthält, bei 4,7 Mio Verordnungen 7 Lungenembolien (BGA: 10 Fälle) und 4 zerebrale Insulte (BGA: 6 Fälle). Bezogen auf 1 Mio Verordnungen war also für FEMOVAN die Berichtsfrequenz bei Lungenembolien 7fach und bei zerebralen Ereignissen 12fach höher als bei MARVELON. Diese Befunde begründen den Verdacht eines erhöhten Risikos thromboembolischer Ereignisse unter FEMOVAN im Vergleich zu anderen niedrigdosierten "Pillen" wie MARVELON.

Nach der Rechtsprechung, die 1971 im CONTERGAN-Einstellungsbeschluß kodifiziert wurde, darf die Schwebesituation zwischen anfänglichem Verdacht und dessen endgültiger wissenschaftlicher Bestätigung nicht zu Lasten der Anwenderinnen gehen, weil die Gesundheit der Patienten das höchste Rechtsgut ist und Herstellerinteressen am ungehinderten Verkauf ihrer Produkte als nachrangig gelten. Handelt der Hersteller nicht eigenverantwortlich, muß das Bundesgesundheitsamt einschreiten und den Vertrieb des Produktes bis zur Abklärung des Verdachts unterbinden. Geschehen ist aber nichts.

Die Firma Schering läuft Sturm gegen für sie schädliche Informationen, insbesondere als das Fernsehen von dem Verdacht der erhöhten Komplikationsdichte berichtete,6 was zu einem Umsatzrückgang bei FEMOVAN um etwa die Hälfte führte. Von Schering veranlaßte Nachuntersuchungen konnten die Befunde von KUHL3 nicht bestätigen.7,8 Schon im April 1990 hatte die Firma an Ärzte eine Pressenotiz verschickt, in der ein Münsteraner Neurochirurg entgegen dem Stand der Kenntnis in der Literatur und in den Fachinformationen einen Zusammenhang zwischen OK und Hirninsult bestritt.9 Diese Auffassung wurde 1991 erneut verbreitet.10

Eine Mitteilung von KÖNIG ("Hirnkreislaufstörungen unter Einnahme Gestoden-haltiger hormonaler oraler Kontrazeptiva – eine Analyse von 61 Verdachtsfallmeldungen") soll im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht werden.

  • Im Manuskript wird behauptet, daß die erhöhte Meldehäufigkeit von zerebralen Ereignissen unter FEMOVAN durch Veröffentlichungen des Bundesgesundheitsamtes und der Presse induziert sei. Dem Leser wird also suggeriert, daß die Vielzahl der Meldungen zu FEMOVAN Produkt einer Kampagne sei. Das ist nachweislich falsch, denn von 1988 auf 1989, also nach der ersten Warnung des BGA im Februar 1989, stieg die Melderate für FEMOVAN um das 10fache (von 11 auf 104 Berichte), während die für MARVELON um das 25fache zunahm (von 2 auf 56). Von einer Belastung zum Nachteil von FEMOVAN kann also keine Rede sein. Trotz der gestiegenen Meldefrequenz blieb bei zerebralen Ereignissen die Häufung zulasten von FEMOVAN unverändert.
  • Die für die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit notwendigen und üblichen Angaben zur Methodik der Auswertung und Beurteilung der Fallmeldungen fehlen im Manuskript von KÖNIG, so daß alle Aussagen der wissenschaftlichen Begründung entbehren.
  • Es wird erwähnt, daß bei den Fallmeldungen 26% der Frauen älter als 35 Jahre waren. Vernachlässigt wird aber im Text, daß fast die Hälfte der betroffenen Frauen unter 25 Jahre alt war, also in einem Alter, in dem spontan auftretende zerebrale Ereignisse extrem selten sind.
  • Alle möglichen pathogenetischen Ursachen für die Entstehung zerebraler Ereignisse werden breit diskutiert, nur die im jugendlichen Alter in Studien als wesentliche Einflußgröße belegten OK bleiben als Kausalfaktor unerwähnt. Es finden sich sogar bedenkliche Uminterpretationen von Literaturaussagen. So wird VESSEY und Mitarbeitern4 unterstellt, sie hätten in den Ergebnissen der Oxford Family Planning Association nur Hochdruck und Nikotinabusus als Risikofaktoren für zerebrale Blutungen beschrieben, nicht aber OK.
    Das ist irreführend, denn in der Studie wird für OK-Verwenderinnen eine Risikoerhöhung von Subarachnoidalblutungen um das 1,5 - 2fache beschrieben. Die Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, daß OK-Gebrauch bei nicht-hämorrhagischen Insulten einen klaren Risikofaktor darstellt, während Hochdruck und Rauchen geringere Bedeutung haben.
  • Bei 16 der 61 gemeldeten Fälle konnten anscheinend in den Meldungen keine zusätzlichen Grunderkrankungen ausgemacht werden, die nach Meinung des Interpreten das zerebrale Ereignis ausgelöst hatten. In diesen Fällen wird die Meldung als "lückenhaft" oder "inakzeptabel" abklassifiziert und den meldenden Ärzten mangelnde ärztliche Sorgfalt oder diagnostische Unfähigkeit unterstellt: "Diese Meldeprotokolle erfüllen nicht die an eine Verdachtsmeldung zu stellenden Ansprüche ärztlicher Sorgfalt, da die Angaben möglicherweise Verdachtsdiagnosen sind oder nur Symptomschilderungen entsprechen."
  • Wie die Methodik der Ablehnung des Kausalzusammenhangs zwischen FEMOVAN-Gebrauch und zerebralem Insult vorgeht, läßt sich an einem Fall gut nachvollziehen: Eine aktive 43jährige Frau erleidet 1989 nach längerfristiger FEMOVAN-Einnahme plötzlich einen massiven Insult. Bei der Aufnahme liegt das Gesamtcholesterin bei 236 mg%, das nach Absetzen von FEMOVAN schnell auf 176 mg% absinkt. Veränderungen des Cholesterinspiegels sind ein für OK bekanntes Phänomen.11 In der Bewertung des Herstellers wird aus der Fallgeschichte eine Kontraindikation für FEMOVAN wegen "behandlungsbedürftiger" Hypercholesterinämie "mit starken arteriosklerotischen Veränderungen," obwohl selbst der Ausgangswert bei einer 43jährigen Frau nicht als pathologisch einzustufen ist.12 Im Manuskript von KÖNIG gibt es dann keinen Zusammenhang mehr zwischen FEMOVAN und dem Insult: "Zwei transitorisch-ischämische Attacken und ein apoplektischer Insult wurden als vermutete Kontrazeptivawirkung angegeben bei Frauen mit behandlungsbedürftigen Fettstoffwechselstörungen (Hypercholesterinämie)." Es wird also unterstellt, daß der Insult bei der Patientin auf einem arteriosklerotischen Gefäßprozeß und nicht auf einem thrombotischen Ereignis beruhte. Das ist unrichtig, denn die Gefäßdarstellung der Hirnstrombahn (DSA) ließ nur geringe, hämodynamisch nicht wirksame arteriosklerotische Veränderungen an den Karotiden erkennen, nicht aber an der Arteria cerebri media. Der Verschluß des Hauptstamms der Cerebri media rechts zeigte keinen Zusammhang mit Wandveränderungen. Insbesondere fanden sich nach rascher Revaskularisierung keine Wandveränderungen, so daß als Ursache eindeutig eine Gerinnselbildung im Gefäß belegbar war.

FAZIT: Die Ereignisse um FEMOVAN/MINULET und deren pseudowissenschaftliche Interpretation zeigen beispielhaft, wie in der Bundesrepublik Deutschland der verordnende Arzt und der Patient bedenklichen oder qualitativ minderwertigen Arzneimitteln ausgesetzt werden. Diese Gemengelage ist gekennzeichnet durch einen wechselseitigen Verstärkereffekt von Insuffizienzen wie:

  • Mängel bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Daten und bei der notwendigen kritischen Distanz zu Auftraggebern.
  • Mängel in der Absicherung durch Expertengutachten (Peer Review) auf der Ebene der wissenschaftlichen Institutionen, Fachgesellschaften, ärztlichen Standesorganisationen oder Herausgebern von Fachzeitschriften.
  • Mangelhaftes Qualitätsbewußtsein und Leistungsdefizite auf der Ebene der Produktanbieter einschließlich der Mißachtung legaler oder ethischer Normen.
  • Bedauernswerte administrative Hilflosigkeit auf der Ebene der staatlichen Überwachung.

Die sich im Vergleich zu anderen Mikropillen in den Meldeeinrichtungen einheitlich widerspiegelnde Komplikationsdichte gestodenhaltiger Kontrazeptiva bedroht weiterhin die Gesundheit, weil wissenschaftliche und arzneimittelrechtliche Qualitäten in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft wenig Gewicht haben, wenn die Machtfrage gestellt ist.


© 1991 arznei-telegramm

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