Für neue Pharmatechnologien besteht Bedarf auch auf der Anbieterseite, wenn es z.B. darum geht, alte Wirkstoffe mit einem neuen Kleid
zu vermarkten. Die Marketing-Abteilung von Ciba-Geigy Basel gab 1983 "ein klassisches Beispiel dafür, welches Potential aus einem alten Wirkstoff
herausgeholt werden kann", wenn man ihn durch eine moderne Anwendungstechnologie zu etwas völlig Neuem verwandelt. Damals war es das
NITRODERM TTS Pflaster, das mit dem seit 1879 bei Angina pectoris verwendeten Wirkstoff Nitroglyzerin in den Handel kam.
Im Mitarbeitertraining gestand Ciba-Geigy, "wenn die erste Begeisterung über die technische Novität zurückgeht, müssen wir erwarten,
daß einige Ärzte einen dokumentierten Wirksamkeitsnachweis bei langdauernder Anwendung verlangen".
Die Begeisterung für die Pflaster-Technologie kühlte in der Zwischenzeit etwas ab, und die Firmen suchen neue Wege, wie man den Markt um
im Ciba-Geigy-Bild zu bleiben wie eine Zitrone auspressen kann (vgl. a-t 7 [1983], 61). Diese Angabe bezieht sich auf die Beschreibung des NITRODERM
TTS. Weil das Wachstum der verschreibungspflichtigen Arzneimittel gegenwärtig an Kostengrenzen stößt, versucht die Branche als neues
erklärtes Ziel, den Selbstmedikationsumsatz zu verdoppeln.1
Früher galten "teure Luxuszubereitungen" als Chefarztpräparate beispielsweise das Eisenpulver SPARTOCINE (vgl.
transparenz-telegramm 87/88, S. 196). Heute will sich der Verbraucher selbst etwas Gutes tun, so etwa mit LARYLIN Heißgetränk oder CONTAC
Erkältungstrunk. Für Preise bis 15 DM erhält er Parazetamol, das in der Apotheke schon für knapp 2 DM zu haben ist (s. Kasten).
Die zunehmend angebotenen rezeptfreien Kleinpackungen sonst verschreibungspflichtiger Mittel bringen gleich mehrfach "Nutzen". Sie steigern
deren Bekanntheitsgrad und erhöhen die Verkaufszahlen. Ohne Rezept gekaufte Packungen wecken Bedarf nach Verordnungen, Rezepte ziehen
Selbstmedikation nach sich, beispielsweise für die Lippenherpes-Creme ZOVIRAX oder das Stopfmittel Loperamid (IMODIUM AKUT, LOPEDIUM u.a.)
Andere Methoden der Mark(t)abschöpfung sind subtiler. Ein niedergelassener Apotheker klagt, daß Großpackungen des Anästhetikums
Alfentanil (RAPIFEN), die er bislang für ambulante Operateure besorgen konnte, jetzt nur noch für Kliniken verfügbar sind. Mehrkosten durch den
erforderlichen Bezug von Kleinpackungen: 32% (1 DM/Ampulle).
Nach wie vor dienen "Innovationen" als Motor der Teuerung. Für die Lederle GmbH reicht bereits eine neue Indikation aus, um das gegen
chronische Polyarthritis angebotene Methotrexat-Präparat LANTEREL doppelt so teuer anzubieten wie das wirkstoffidentische Zytostatikum METHOTREXAT
"LEDERLE" (vgl. Seite 24). Eine noch "bescheidene" Preispolitik im Vergleich zur Glaxo GmbH, die das neue
Migränemittel Sumatriptan (IMIGRAN) bis zu 27fach teurer anbietet als Ergotamin-Präparate wie ERGOTAMIN MEDIHALER Dosieraerosol oder über
100fach teurer als Azetylsalizylsäure (ASS-RATIOPHARM; vgl. Seite 23). Die quälenden Kopfschmerzen mögen
durch Sumatriptan zwar beim Patienten verschwinden, um dann vielleicht auf den verordnenden Arzt überzugehen, der an sein Budget denkt: Vorausgesetzt
Sumatriptan würde eine 100%ige Marktdurchsetzung erlangen, bedeutete dies jährliche Kosten von etwa drei Milliarden DM, selbst wenn Migräniker
monatlich nur eine Migräneattacke mit Sumatriptan behandeln würden.2 Derzeit wenden die Gesetzlichen Krankenkassen für
Migränemittel ein Dreißigstel dieses Betrages auf, nämlich knapp 100 Millionen DM.3
Ob im Jahr 1993 nur 400 Millionen oder ein Vielfaches davon für das neue Migränemittel von den Kassen aufzubringen sind, hängt davon ab, wie
schnell Sumatriptan in die "Feder" des Arztes kommt.
Die französische Regierung und die Sozialbehörden in den Niederlanden trotzten bisher dem Glaxo-Angriff auf das Portefeuille der Sozialversicherten,
indem sie den Erstattungstarif für Sumatriptan nicht genehmigten trotz des Medienspektakels, das Glaxo installierte, um über die Fach- und
Laienpresse Nachfragedruck im Sprech- und Wartezimmer zu machen.
Einerseits ist die pharmazeutische Innovation unabdingbar für einige Migränekranke, deren Attacke mit herkömmlichen Mitteln nicht zu durchbrechen
ist, andererseits kann das Arzneibudget eines Sozialstaates an der Neuheit zerbrechen, weil das Gesundheitsstrukturgesetz innovativen Übergriffen der
Anbieter freien Lauf läßt.
1 | Süddeutsche Ztg. vom 4. Jan. 1993 |
2 | SCHULTE-SASSE, H.: Fortbildung Univ. Göttingen, Abt. Allg. Med., 28. Okt.
1992 |
3 | SCHWABE/PAFFRATH: "Arzneiverordnungs-Report '92", Fischer, Stuttgart
1992, Seite 297 |
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