PPSB- bzw. Faktor-IX-Konzentrate werden zur Substitution bei angeborenen Gerinnungsstörungen (z.B. Hämophilie B) sowie therapeutisch bei
Gerinnungsfaktormangel als Folge von Blutungen gebraucht. Auch Blutungen bei schweren Leberschäden oder unter oraler Antikoagulation gehören zu
ihren Anwendungsgebieten. Wegen der Gefahr der Hepatitisübertragung wurde schon in den 70er Jahren versucht, diese Präparate einem
Virusinaktivierungsverfahren zu unterziehen. Doch erst Mitte der 80er Jahre standen Faktor-IX/PPSB-Präparate zur Verfügung, die als "Hepatitis-
sicher" galten und auch keine HI-Viren übertragen sollten.
Warnungen, nur noch hitzebehandelte Gerinnungskonzentrate mit Faktor IX zu verwenden oder anstelle von gepoolten Gerinnungskonzentraten gefrorenes
Frischplasma (FFP) von Einzelspendern einzusetzen, verhallten kaum beachtet, als längst der Verdacht bestand, das Syndrom der erworbenen
Immunschwäche (AIDS) stehe ursächlich mit der Behandlung mit Blutderivaten in Verbindung.
Dem NETZWERK DER GEGENSEITIGEN INFORMATION wurden sechs Berichte über HIV-Infektionen aus nordrhein-westfälischen Kliniken mit bislang
unbekannter Infektionsquelle im Raum Remscheid, Recklinghausen und Lüdenscheid sowie Wuppertal mitgeteilt. Sie weisen ein gemeinsames Merkmal auf:
Die Betroffenen erhielten in den Jahren 1984 bis 1985 eine oder mehrere Ampullen PPSB des Blutspendedienstes des DRK Hagen. Eine Person erhielt
ausschließlich PPSB. Bei den anderen Patienten waren die Spender von Erythrozytenkonzentraten oder anderen Blutprodukten nachweislich HIV-negativ.
Individuelle Anfragen zum Sachverhalt beschied die Geschäftsführung des Blutspendedienstes der DRK-Landesverbände Nordrhein und
Westfalen-Lippe negativ: "Falls eine oder mehrere ... Chargen mit AIDS-Erregern kontaminiert gewesen sein sollte(n), müßten mittlerweile ... auch bei
anderen Empfängern von PPSB der betreffenden Charge(n) AIDS-Erkrankungen aufgetreten sein..."
Die Zusammenführung der Daten im NETZWERK macht jedoch die Gerinnungskonzentrate des Hagener DRK-Blutspendedienstes mit der Bezeichnung
PPSB-HUMAN 250 bzw. 500 Einheiten infektionsverdächtig. Jeweils zweimal taucht die Chargennummer 41 453 auf. Die Infizierungen sind
wahrscheinlich im Prosper-Hospital Recklinghausen bzw. im Klinikum Wuppertal eingetreten. Dreifach wird die Chargennummer 41 334 bei HIV-Infizierten
aus dem Bereich des Prosper-Hospital Recklinghausen* und der Kreiskrankenhäuser des Märkischen Kreises (Lüdenscheid) genannt.
Die Chargennummer 41 487 bezieht sich auf zwei Infizierungen, die sich mutmaßlich in einer Klinik der Stadt Wuppertal bzw. der
Kreiskrankenhäuser des Märkischen Kreises ereigneten.
Bei einer an AIDS Verstorbenen wird die HIV-Infektion mit einem Aufenthalt in der Städtischen Frauenklinik Remscheid in Verbindung gebracht. Die Klinik
bezog ausschließlich Blutprodukte des DRK Hagen. Der Haftpflichtversicherer des DRK ist seiner Einstandspflicht nachgekommen und hat in diesem Fall eine
Abfindung gezahlt. Im Zeitraum 1983/84 brachte der Blutspendedienst des DRK Hagen ca. 30 PPSB-Chargen in Verkehr. Wenn bei fünf HIV-Infizierungen drei
Chargen doppelt bzw. dreifach angegeben werden, spricht der Anschein für eine Kausalität der Blutprodukte, zumal andere Infektionsquellen nicht
ausfindig zu machen sind.
Schätzungen gehen davon aus, daß jährlich bis zu 10.000 Patienten, die keine angeborenen Gerinnungsstörungen hatten, PPSB erhielten.1
Damit liegt die Zahl der infektionsgefährdeten Personen bei Nichtblutern weitaus höher als bei Hämophiliepatienten unter Dauer- bzw.
Bedarfssubstitution von Faktor-IX-PPSB in den Jahren 1983 bis 1985, auch wenn viele der Patienten, die PPSB erhielten, wegen der Schwere der Grunderkrankung
verstorben sein dürften.
Noch immer werden bis dato unbekannte HIV-Infizierungen bei Nichtblutern außerhalb der Risikokreise entdeckt. Es liegt nahe, nach Krankenhausaufenthalten
in der Vorgeschichte im Zeitraum 1980 bis 1987 zu fragen. Kann bei Empfängern von PPSB-Konzentraten ein Chargenaggregat gebildet werden, d.h. wird bei
zwei Patienten jeweils eine identische Charge des PPSB-Präparates gefunden, hilft dies, den Anspruch der Geschädigten einvernehmlich oder vor Gericht
durchzusetzen. Eine Beweislastumkehr zu Lasten des Herstellers erscheint dann möglich.
Die Aggregatbildung via Chargennummer hat den Geschädigten der Biotest-Infektionsserie mit der Chargennummer 160 1089 zur Anerkennung des
Anspruchs auf Entschädigung verholfen. Auch hier war das NETZWERK beteiligt. Ärzte des Krankenhausverbands in Siegen sowie des Marien-Hospitals
in Herne** hatten eine Serieninfizierung mit nicht oder nicht ausreichend virusinaktiviertem PPSB*** der Behringwerke festgestellt. Solche "Cluster"-
Bildungen geben einen Hinweis auf die Infektionsursache, auch wenn die Chargennummer nicht zu ermitteln ist.
PPSB wurde häufig bei Blutungen in der Nachgeburtsperiode, Entbindung mit Kaiserschnitt oder anderen Notfalleingriffen während der Geburt verabreicht,
ebenso bei schweren Verkehrsunfällen, rekonstruktiven Operationen in der Darmchirurgie, erfolgreich operierten Malignomen oder bei Blutungen unter
MARCUMAR-Behandlung. Finden sich unerwartet HIV-Infektionen, dann sollte nach solchen Risikofaktoren gefahndet werden. Im Zweifel erbitten wir Ihren Bericht
an das NETZWERK.
1 | Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses des deutschen Bundestages
"HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte" (Drucksache 12 [859] vom 25.10.1994)
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* | Bei Redaktionsschluß wird eine gerichtshängige Klage eines HIV-Infizierten gegen
den Blutspendedienst des DRK Hagen bekannt. Das Infektionsereignis soll sich im Mai 1984 im Prosper-Hospital Recklinghausen zugetragen haben. Dies wäre
der dritte Fall einer im Prosper-Hospital vermittelten HIV-Schädigung. |
** | Der Versicherer der pharmazeutischen Unternehmen hat dem inzwischen an Hepatitis C
und AIDS erkrankten Patienten eine Abfindung von DM 185.000 angeboten. Die Kausalitätszuordnung gelang erst durch zwei im NETZWERK erfaßte
Parallelinfektionen. Bis dahin hatten die Behringwerke ihre Ersatzpflicht bestritten. |
*** | Ein pasteurisiertes Präparat der Behringwerke befand sich seit 1981 in klinischer
Erprobung. Es kam als PPSB im April 1985 in den Handel (BERIPLEX HS). |
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