Ein sehr differenzierter Alkoholiker nimmt Acamprosat (Frankreich: AOTAL) und will diese Tabletten auch von mir verschrieben haben. Was
empfehlen Sie mir?
Dr. A. ENGERT (Ärztin f. Allgemeinmedizin)
D-30165 Hannover>
Für das in Frankreich seit 1989 als AOTAL erhältliche Acamprosat hofft der Hersteller Lipha im nächsten Jahr auf eine Zulassung in Deutschland
(vorgesehener Handelsname CAMPRAL).1 Im Unterschied zum Aversivum Disulfiram (ANTABUS), das Entwöhnungswillige bei Alkoholgenuß
durch Hitzegefühl und Tachykardie2 "bestraft", soll Acamprosat das Alkoholverlangen, das sog. craving, dämpfen.3
Aufmacher in der hiesigen Laienpresse wie "180 gute trockene Tage" (Spiegel 36/1994) stimulieren bereits jetzt die Nachfrage.
Acamprosat hemmt den exzitatorischen Überträgerstoff Glutamat und dämpft die neuronale Erregbarkeit im Gehirn. Im Tierversuch mindert es die
Trinkmenge süchtiger Ratten.3
Methodische Probleme wie die glaubwürdige Dokumentation der Abstinenz erschweren die Bewertung von Anti-craving-Mitteln zur Alkoholentwöhnung.
Eine standardisierte Methode zur Erfassung des Alkoholverlangens existiert nicht. Mehrmonatige Untersuchungen haben Drop-out-Raten von etwa 50%. Teilnehmer
mit hoher Einnahmezuverlässigkeit sind unabhängig davon, ob sie Verum oder Plazebo erhalten, weniger rückfallgefährdet.4
Acamprosat wird seit zehn Jahren klinisch erprobt. In einer dreimonatigen Pilotstudie nehmen 70 Alkoholiker täglich 1000 mg bis 2250 mg oder Plazebo ein. Auf
der Grundlage monatlicher Befragung sowie Messung von Gamma-GT und mittlerem korpuskulärem Erythrozytenvolumen gelten nach Studienablauf 20 von 33
(61%) Teilnehmern der Verumgruppe als abstinent im Vergleich zu 12 von 37 (32%) unter Scheinmedikament.5 Die Autoren starten anschließend eine
kontrollierte Multizenterstudie mit 569 Alkoholabhängigen. Nur gut 60% beenden den Versuch. Einziger signifikanter Unterschied nach drei Monaten ist die
Höhe der Gamma-GT mit 48 U/l unter Acamprosat nach eingangs 191 U/l vs. 73 U/l nach anfangs 206 U/l unter Plazebo.2 Klinische
Studienendpunkte fehlen.3 Viele der seither durchgeführten, drei- bis zwölfmonatigen Untersuchungen wurden entweder nicht oder nur als
Abstract veröffentlicht, darunter eine britische Studie, die keinen über Plazebo hinausgehenden Nutzen erbrachte. In einer Schweizer (n = 62)6
und einer kürzlich publizierten französischen Untersuchung (n = 538)7 mit hohem Anteil von Studienabbrechern finden sich zwar nach 30 Tagen
bzw. einem halben Jahr signifikant höhere Abstinenzraten gegenüber Plazebo, nicht jedoch im weiteren Verlauf bis zu einem Jahr.
Im ersten Einnahmemonat klagen 9% bzw. 6% der Anwender über Durchfall bzw. Frigidität oder Impotenz. Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen
sowie Mißempfindungen werden ebenfalls besonders zu Behandlungsbeginn beobachtet. Kopfschmerzen, Schwitzen, Pruritus, Urtikaria und Palpitationen
kommen vor. Die Unverträglichkeiten sollen sich trotz fortgesetzter Therapie teilweise zurückbilden. Französische Ärzte beobachten einen
Erythema-multiforme-ähnlichen Hautausschlag bei einer 40jährigen, den sie auf Acamprosat zurückführen.8,9,10 Serumkreatinin,
Harnsäure und Zahl der roten Blutzellen können ansteigen. Nach Acamprosat plus B-Vitaminen und Tetrabamat (Schweiz: ATRIUM) bzw. Meprobamat
(VISANO N) wird Pankreatitis bzw. Thrombozytopenie beschrieben.11 Hinweise auf ein suchterzeugendes Potential des Anti-craving-Mittels scheint es
bislang nicht zu geben.
FAZIT: Der Glutamatantagonist Acamprosat (Frankreich: AOTAL) soll das Verlangen nach Alkohol (craving) dämpfen. In einigen Kurzzeitstudien deutet sich
ein Nutzen als Abstinenzhilfe an. Bei der Vielzahl nicht veröffentlichter Daten und der soweit beurteilbar fehlenden Langzeiteffekte
läßt sich das Mittel u.E. derzeit nicht empfehlen.
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