Häufigste Ursache nicht entzündlicher Polyneuropathien ist der Diabetes mellitus (40%), gefolgt von chronischem Alkoholabusus (10%). Zu 5%
geht die Schädigung von Medikamenten aus, z.B. Antiinfektiva wie Isoniazid (ISOZID u.a.), Ethambutol (MYAMBUTOL u.a.), Nitrofurantoin (FURADANTIN
u.a.), Metronidazol (CLONT u.a.), Sulfonamiden und Chloroquin (RESOCHIN u.a.), ferner von Zytostatika, Amiodaron (CORDAREX) und hochdosiertem Vitamin B6
(B6-VICOTRAT FORTE u.a.)1 sowie Umwelt- und Gewerbegiften. Oft bleibt die Ätiologie offen oder gilt als "multifaktoriell" (30%).
Polyneuropathien bei Grunderkrankungen wie terminaler Niereninsuffizienz, Leberzirrhose oder Schilddrüsenfunktionsstörungen sind selten. Als
Auslöser von Vitaminmangelzuständen (Vitamin B1, B2, B6, B12, Folsäure, Vitamin E) kommen bei ausgewogener Ernährung nur
Malabsorptionssyndrome in Betracht.2,3
Die Einteilung der Polyneuropathien orientiert sich vorwiegend an Symptomen (motorisch, sensibel oder gemischt sensomotorisch) und Verteilungsmuster (proximal
oder distal betont, asymmetrisch oder symmetrisch). Symmetrische, distal betonte sensomotorische Polyneuropathien, meist mit ausgeprägten sensiblen
Störungen, dominieren.
Für die Patienten stehen sensible Reizsymptome (Parästhesien, Dysästhesien, Hyperpathien, Kälte- und Wärmegefühle, Schmerzen
mit brennendem, einschießendem und neuralgischem Charakter) im Vordergrund. Ausfallerscheinungen wie Hypästhesien, Taubheitsgefühl und
eingeschränkte Temperaturwahrnehmung werden weniger als störend empfunden. Neuralgische, einschießende und reißende Schmerzen
kennzeichnen besonders den radikulären oder mononeuritischen Typ der Neuropathie, periphere, diffuse, quälende und brennende Dauerschmerzen eher
den symmetrischen sensiblen oder sensomotorischen Typ.1-3
Bei jedem zweiten Patienten mit peripherer diabetischer Neuropathie soll auch das vegetative Nervensystem betroffen sein. Besondere Bedeutung wird der
kardiovaskulären autonomen diabetischen Neuropathie beigemessen, die die Sterblichkeit der Patienten innerhalb von fünf bis zehn Jahren
verfünffachen soll.4 In erster Linie gelten maligne Arrhythmien als Ursache, wie sie auch bei autonomen kardialen Dysfunktionen im Rahmen
chronischer Lebererkrankungen auftreten.
KAUSALE BEHANDLUNG: Können Kontakt mit Umwelt- und Gewerbegiften eingeschränkt, Alkoholabusus beendet oder auslösende
Arzneimittel abgesetzt werden, bilden sich die Beschwerden meist allmählich zurück. Zur Behandlung von Polyneuropathien im Rahmen chronischer
Schwermetallvergiftungen dienen spezielle Chelatbildner als Antidote (z.B. Dimercaprol [BAL], Penicillamin [TROLOVOL u.a.]). Die Isoniazid-Polyneuropathie
läßt sich mit Vitamin B6 verhindern (10% bis 20% der Isoniaziddosis) oder behandeln (100 bis 200 mg).3
Für Diabetiker kommt einer straffen Stoffwechselführung besondere Bedeutung zu. Intensivierte Insulintherapie verringert die Häufigkeit
einer Polyneuropathie innerhalb von fünf Jahren im Vergleich zu konventioneller Insulintherapie auf ein Drittel. Klinische Zeichen (Beschwerden, neurologischer
Befund) wie auch objektive Kriterien einer Neuropathie (Nervenleitgeschwindigkeit) entstehen unter intensivierter Insulintherapie halb so häufig. Das Auftreten
autonomer Neuropathien läßt sich durch intensivierte Insulintherapie innerhalb von fünf Jahren auf die Hälfte reduzieren.5
Bei Insulinmangel und chronischer Hyperglykämie entsteht in Neuronen durch Aldose-Reduktase vermehrt Sorbitol. Die darauf beruhende Hyperosmose soll
Nerven schädigen. Hemmstoffe der Aldose-Reduktase (Sorbinil, Tolrestat [Italien: ALREDASE u.a.]) bessern in einzelnen Plazebo-kontrollierten
klinischen Prüfungen Beschwerden, Nervenleitgeschwindigkeit und histologische Befunde. Wegen zweifelhafter Nutzen/Risiko-Relation wird dennoch von
Aldose-Reduktase-Hemmstoffen abgeraten.6,7 Sorbinil mußte wegen schwerster toxisch-allergischer Reaktionen zurückgezogen
werden.
Mangel an Myo-Inositol als Bestandteil der membranständigen Natrium-Kalium-ATPase fördert angeblich die energetische Erschöpfung der
Nervenzellen. Für die klinische Wirksamkeit einer "Substitution" von Myo-Inositol fehlen Belege.8
SYMPTOMATISCHE BEHANDLUNG: Diese zielt auf sensible Reizempfindungen wie Schmerzen, Parästhesien und Brennen. Neuralgische Symptome
beginnen oft akut, klingen dann aber nach plateauartiger Phase spontan ab. Neue oder zunehmende Beschwerden kündigen nicht unbedingt eine
Verschlechterung der Neuropathie an. Sie treten auch im Rahmen regenerativer Phasen auf. Symptomatische Verfahren sind deshalb nie auf Dauer einzuleiten. Ihre
Notwendigkeit ist laufend zu überprüfen.
Rund 45% der Patienten mit schmerzhafter Polyneuropathie sprechen auf Scheinmedikamente an. Der vor allem in den ersten vier Wochen deutliche Effekt
verliert sich innerhalb von sechs Monaten. Plazebo lindert die Intensität der Schmerzen etwa um 25%.8
Die gut untersuchten trizyklischen Antidepressiva helfen besonders bei anhaltenden, brennenden Schmerzen mit peripherem Verteilungstyp, aber auch bei
neuralgischen Schmerzen (vgl. a-t 10 [1993], 95).9,10 Desipramin (PERTOFRAN u.a.) wirkt bei schmerzhafter
diabetischer Polyneuropathie ähnlich gut (61% Besserung versus 74%) wie das meist verwendete Amitriptylin (SAROTEN u.a.). Die Tagesdosen liegen um 100
mg und damit etwa im Bereich der antidepressiven Therapie. Der Effekt setzt nach ein bis zwei Wochen ein, also früher als die antidepressive Wirkung.
Anticholinerge Störwirkungen bereiten gerade Diabetikern mit autonomer Neuropathie besondere Probleme. Deshalb wird mit niedrigen Dosierungen begonnen
und nach langsamer Steigerung die geringste wirksame Dosis gesucht. Das weniger stark anticholinerg wirkende Desipramin könnte für diese Patienten
vorteilhaft sein. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Fluoxetin (FLUCTIN) und Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS) sind in der Behandlung der
schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie weitgehend unwirksam.10,28 Auch bei Zoster-Neuralgien gelten Antidepressiva vom Amitriptylin-Typ mit als
Mittel der Wahl und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als nicht nützlich.12,13
Einige Antikonvulsiva verschaffen bei schmerzhaften Polyneuropathien und Trigeminus-Neuralgien Linderung (a-t 3 [1982], 28), vor allem Carbamazepin
(TEGRETAL u.a.) und Phenytoin (PHENHYDAN u.a.). 60% bis 80% der Patienten sprechen an, unter Plazebo 20% bis 40%.14 Antikonvulsiva sollen sich
zur Therapie der schwer beeinflußbaren, einschießenden Schmerzen eignen. In einer kleineren unkontrollierten Studie läßt sich ein Nutzen von
Carbamazepin auch bei alkohol-toxisch bedingter und urämischer Polyneuropathie erkennen.11
Antiepileptika bleiben Mittel der Reserve. Mit Benommenheit, Schwindel und Gangunsicherheit ist bei jedem dritten bis vierten Patienten zu rechnen. Wegen
schwerwiegender Störwirkungen (Exanthem, Leukopenie, Leberfunktionsstörungen u.a.) bricht einer von 20 bis 30 Patienten die Behandlung ab.
Nicht-Opioid-Analgetika wie Parazetamol (BENURON u.a.) oder niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (ASPIRIN u.a.) reichen zur Schmerzlinderung oft
nicht aus. Aufgrund von Folge- und Begleiterkrankungen bei Diabetes mellitus steigt die Gefahr von Störwirkungen (z.B. an Magen-Darm und Nieren). Nur
begrenzte Erfahrungen existieren für Opioide, die allenfalls vorübergehend bei vorwiegend neuralgischen Schmerzen vertretbar
erscheinen.8,15,16
Schwach wirksame, sedierende Neuroleptika werden gelegentlich zur Therapie von schmerzhaften Neuropathien vorgeschlagen, z.T. in Kombination mit
einem Antidepressivum.6 Aussagekräftige plazebokontrollierte Studien fehlen.
Unter Lidokain-Kurzzeitinfusion fällt ein globaler Schmerz-Score bei 15 Patienten mit schmerzhafter Neuropathie über die folgenden acht Tage
günstiger aus als nach Kochsalzinfusion.17 Praktikabler könnte die Einnahme des strukturverwandten Antiarrhythmikums Mexiletin (MEXITIL u.a.)
sein. In einer kleinen Cross-over-Studie beeinflußt Mexiletin die Schmerzsymptomatik nach sechs Monaten besser als ein Scheinmedikament.18 In einer
größeren Doppelblindstudie läßt sich hingegen im Parallelgruppenvergleich kein Unterschied sichern. Nur die retrospektive Auswertung einzelner
Symptome wie Stechen, Brennen, Kribbeln und Wärmegefühl fällt zugunsten von Mexiletin aus.19 In höheren Dosierungen nehmen
Übelkeit, Erbrechen und Tremor zu.
Die äußerliche Anwendung von Capsaicin als 0,075%ige (Großbritannien: AXSAIN 0,075%, a-t 9 [1992], 88), seltener als 0,025%ige Creme (USA: ZOSTRIX) viermal täglich bei schmerzhaften
Polyneuropathien oder Neuralgien erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Nach anfänglichen schmerzhaften und brennenden Empfindungen soll die
kontinuierliche Anwendung durch Verarmung der Nervenfasern an Substanz P, einem Transmitter für Schmerzreize, die Schmerzwahrnehmung
herabsetzen.20 In einer Metaanalyse von vier plazebokontrollierten Doppelblindstudien lindert eine 0,075%ige Creme über vier bis acht Wochen
Schmerzen bei drei von vier Patienten mit diabetischer Neuropathie. Auf Plazebo-Creme spricht jeder zweite an.21
Schon das bloße Einreiben mindert Schmerzempfindungen. Patienten mit Polyneuropathie verschaffen sich häufig durch Massieren betroffener Hautareale
Linderung. Wegen des charakteristischen brennenden Wärmegefühls ist eine plazebokontrollierte Studie mit Capsaicin kaum doppelblind
durchführbar. Im Vergleich mit hyperämisierender Creme (Methylnikotinat) findet sich kein Unterschied.22
Etwa 60% der Anwender empfinden starkes Brennen nach Auftragen des Scharfstoffs aus Spanischem Pfeffer. Jeder zehnte bricht die Behandlung innerhalb der
ersten beiden Wochen ab. Im weiteren Verlauf verliert sich das Brennen bei zwei von drei Patienten.23 Exantheme, trockene Haut, Zunahme der
Schmerzen sowie Husten- und Niesreiz nach Austrocknen der Creme kommen vor. Die Langzeitverträglichkeit bleibt fraglich. Wegen struktureller
Nervenschäden im Tierversuch gilt Capsaicin als potentiell neurotoxisch. Durch zusätzliche Einschränkung der Schmerz- und
Wärmewahrnehmung unter Capsaicin könnte bei Patienten mit Polyneuropathie die Gefahr von Hitzetraumen zunehmen.24
Die in den 70er Jahren als Lebermittel propagierte Liponsäure (THIOCTACID u.a.) soll heute ausschließlich zur Behandlung von
"Mißempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie" dienen. Mit drei kleineren Doppelblindstudien ließ sich bislang kein Nutzen sichern (a-t 3 [1994], 26). Bei 260 Diabetikern mit Polyneuropathie soll eine dreiwöchige Behandlung (dreimal 5 Tage) mit 600
mg oder 1200 mg Liponsäure intravenös die neuropathische Symptomatik günstiger beeinflußt haben als Plazebo oder 100 mg Liponsäure
i.v.25 Hauptzielparameter ist der Gesamtscore der Symptome Schmerzen, Brennen, Parästhesie und Taubheitsgefühl. 70% bzw. 80% der Patienten
erfahren unter Liponsäure eine 30%ige Besserung der Beschwerden im Vergleich zu einem nicht genannten Ausgangsbefund, unter Plazebo "nur"
60%. Beurteilt nach Einzelsymptomen hatten die Teilnehmer in den Liponsäure-Gruppen zu Beginn stärkere Beschwerden als Patienten des Plazebo-Arms.
Polyneuropathische Symptome sprechen aber auf ein Scheinmedikament um so besser an, je schlechter der Ausgangsbefund ist. "Die Studie strotzt nur so von
methodischen Mängeln"8 (z.B. Symptombeurteilung nicht durch Patienten, keine objektive Beurteilung der Neuropathie, nachträglicher
Ausschluß von 51 Personen [16%] trotz vollständiger Behandlung, keine "Intention to treat"-Analyse), so daß sich die Aussagekraft
"auf Null reduziert".8
Bis jetzt fehlt somit auch für die massiv propagierte intravenöse Therapie ein eindeutiger Wirksamkeitsnachweis.26 Bei kardialer Neuropathie
sollen 800 mg Liponsäure per os das "Leistungsspektrum der Herzfrequenz-Variabilität" verbessern.27 Offen bleibt dabei, welche
klinische Bedeutung dieser Meßgröße zukommt.
FAZIT: Die Behandlung von Polyneuropathien bleibt häufig unbefriedigend. Vorrangig sind auslösende Noxen zu meiden (Alkohol, Medikamente,
Umweltgifte) und der Stoffwechsel von Diabetikern straff einzustellen. Symptomatisch wirkende Medikamente erzeugen hohe Plazeboeffekte.
Am günstigsten schneiden trizyklische Antidepressiva vom Amitriptylin (SAROTEN u.a.)-Typ ab. Antikonvulsiva wie Carbamazepin (TEGRETAL u.a.) und
Phenytoin (PHENHYDAN u.a.) versprechen ebenfalls Linderung, werden aber schlechter vertragen. Peripher oder zentral ansetzende Analgetika versagen oft.
Antiarrhythmika wie Mexiletin (MEXITIL u.a.) ermöglichen eher marginale Erfolge. Die Ergebnisse mit Capsaicin-Creme bleiben widersprüchlich. Ein
befristeter Therapieversuch läßt sich vertreten. Belege für einen klinischen Nutzen der Liponsäure (THIOCTACID u.a.), die inzwischen in mehr
als 60 Handelspräparaten angeboten und massiv beworben wird, fehlen weiterhin.
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