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Neu auf dem Markt

INTERFERON BETA-1A (AVONEX) BEI MS -
FORTSCHRITT ODER PIAFFE*?

Gut ein Jahr nach Einführung von Interferon beta-1b (BETAFERON, a-t 3 [1996], 27) gelangt ein zweites Interferon zur Behandlung schubförmig verlaufender Multipler Sklerose (MS) auf den Markt: Interferon beta-1a (INFβ-1a; AVONEX). Der Hersteller Biogen postuliert einen krankheitsmodifizierenden Einfluss. Die Erkrankung von Gehirn und Rückenmark mit entzündlicher Zerstörung der Markscheiden des ZNS betrifft hierzulande 50 bis 60 von 100.000 Einwohnern. Zumindest zu Beginn verläuft die MS bei 80% der Betroffenen schubförmig, bei Erstmanifestation jenseits des 40. Lebensjahres jedoch häufig primär chronisch progredient.

UNTERSCHIED DER BETA-1-INTERFERONE: INFβ-1a wird in Säugetierzellen, den Ovarzellen des chinesischen Hamsters, hergestellt und stimmt in der Aminosäuresequenz mit körpereigenem Betainterferon überein - im Gegensatz zum INFβ-1b, das in E. coli-Zellkulturen produziert wird und durch zwei Aminosäuren und Fehlen einer Kohlenhydratseitenkette davon abweicht.

KLINISCHE ERPROBUNG: Die Zulassung von AVONEX basiert auf einer 1996 veröffentlichten plazebokontrollierten Studie mit 300 Patienten. Das darin geprüfte INFβ-1a (BG 9015) ist jedoch nicht identisch mit dem jetzt in AVONEX (BG 9418) angebotenen: Nach dem Scheitern des Joint venture mit der Firma Rentschler verliert Biogen die Patentrechte an der für die Herstellung verwendeten Zelllinie. Biogen entwickelt daraufhin das jetzt vermarktete INFβ-1a auf einer neuen Zelllinie. Nach Auffassung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA haben die vom Hersteller beigebrachten Äquivalenzdaten die Vergleichbarkeit der beiden Stoffe belegt. Bei der Zulassung von AVONEX in den USA im vergangenen Jahr ist die FDA erstmals von dem Prinzip abgewichen, dass für neue biologische Stoffe vollständige klinische Daten vorliegen müssen ("Lex AVONEX"). Ein zuvor als Ersatz für BG 9015 von Biogen produziertes Betainterferon (BG 9216) hatte die FDA nicht als vergleichbar anerkannt und zurückgewiesen.1 Die europäische Arzneimittelbehörde ist der FDA jetzt gefolgt und akzeptiert die mit BG 9015 gewonnenen klinischen Daten als Grundlage für die Zulassung von BG 9418 (AVONEX).2

In die klinische Studie mit BG 9015 werden MS-Patienten aufgenommen, die seit mindestens zwölf Monaten erkrankt und höchstens mäßiggradig behindert sind und während der letzten drei Jahre wenigstens zwei Schübe durchgemacht haben. Bei Studienabschluss haben 172 Patienten zwei Jahre lang teilgenommen. Gemessen an der KURTZKE-Skala (= EDSS: Expanded Disability Status Score) zur Überprüfung des klinischen Verlaufs nehmen mäßiggradige Behinderungen unter einmal wöchentlich 6 Mio E. INFβ-1a nur bei 22% zu im Vergleich zu 35% unter Plazebo. Von 100 IFN-Anwendern könnten demnach 13 hinsichtlich einer Verzögerung des Verlaufs profitieren. Für INFβ-1b fehlt ein solcher Nachweis, allerdings war das Design der Primärstudie hierfür auch nicht ausgelegt.3 INFβ-1a senkt die Zahl akuter Schübe von 0,9 auf 0,6 pro Patient und Jahr und damit in der gleichen Größenordnung wie INFβ-1b (von 1,27 auf 0,84; vgl. Tabelle). Auch kernspintomographisch fassbare Läsionen nehmen stärker als in der Plazebogruppe ab.4

Die zur Verlaufsdokumentation herangezogene KURTZKE-Skala wird unter Neurologen kritisch bewertet.5 Interindividuell unterscheiden sich die Bewertungen häufig. Die Trennschärfe gerade bei geringer Zunahme von Behinderungen, wie sie in der Studie erfasst werden, ist strittig.

Der Langzeitnutzen lässt sich auf der Basis einer einzigen relativ kurzen Interventionsstudie auch dann nicht beurteilen, wenn man von Äquivalenz des Prüfpräparates mit AVONEX ausgeht. Für die derzeit noch laufenden Studien mit Beta-Interferonen sind ebenfalls nicht mehr als ein bis drei Jahre Beobachtungszeit eingeplant.6 Sie müssen deshalb als Markteinführungsstudien eingestuft werden. Offen bleiben somit die für den Erhalt des Erfolges notwendige Therapiedauer sowie der Nutzen im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium. Vergleichende Untersuchungen mit INFβ-1b liegen nicht vor und sind auch nicht geplant.7

VERTRÄGLICHKEIT: Mit häufigem grippeähnlichen Immunsyndrom (Fieber, Muskel-, Nacken- und Kopfschmerzen sowie Bronchitis- Symptomen) gleicht das Nebenwirkungsprofil des Studien-1a-Interferons BG 9015 im wesentlichen dem des Interferon beta-1b. Nach unveröffentlichten Daten z. B. aus der Postmarketing-Überwachung in den USA sollen sich die in Verbindung mit AVONEX beobachteten Störeffekte nicht davon unterscheiden.2 Schwangere, Patienten mit Depression oder Epilepsie dürfen kein INFβ-1 erhalten.

Zahlreiche der mit BG 9015 Behandelten entwickeln neutralisierende Antikörper, die besonders bei hohen Titern offenbar auch die Wirksamkeit des Zytokins beeinträchtigen: Dies betrifft nach zwei Jahren 22% der Patienten.2 Unter Interferon beta-1b bilden innerhalb von zwei Jahren 43% der Anwender neutralisierende, die Wirksamkeit beeinträchtigende Antikörper aus. Die unveröffentlichten Daten zur Antigenität von AVONEX umfassen längstens ein Jahr: In dieser Zeit sollen 15% Antikörper entwickeln, davon jeder dritte mit neutralisierender Aktivität.2,8 Angaben zu Größe und Design der Untersuchung fehlen.

KOSTEN: Das Interferon beta-1a AVONEX wird mit monatlichen Kosten von 2.527 DM für 6 Mio. Einheiten einmal wöchentlich i.m. 16% teurer angeboten als Interferon beta-1b (BETAFERON), für das bei dreimal wöchentlicher s.c.-Injektion von 8 Mio. Einheiten monatlich 2.177 DM aufzuwenden sind.

FAZIT: Interferon beta-1a AVONEX kommt streng genommen ohne klinische Prüfung auf den Markt, weil aus patentrechtlichen Gründen das in der Erprobung verwendete Interferon auf anderer Zelllinie produziert wurde als das jetzt in den Handel gebrachte. Inwieweit die von den Behörden akzeptierten vorklinischen Tests deren Wirkäquivalenz belegen können, bleibt fraglich. Das in einer plazebokontrollierten Studie geprüfte INFβ-1a scheint bei einem Teil der Patienten mit schubförmig verlaufender Multipler Sklerose die Schubrate zu senken und das Fortschreiten von Behinderungen geringfügig zu verzögern. An der Zuverlässigkeit der in der Markteinführungsstudie benutzten Bewertungsskala bestehen jedoch Zweifel. Wer von der Behandlung profitiert, lässt sich nicht vorhersagen. Daten zum Langzeitnutzen und zur optimalen Therapiedauer fehlen. Eine Vergleichsstudie mit dem Schering-Interferon ist nicht vorgesehen. Aussagekräftige Daten zur Bildung neutralisierender Antikörper unter AVONEX liegen nicht vor. Ob die Daten zum therapeutischen Nutzen die Anwendung von Interferonen bei MS überhaupt rechtfertigen, bleibt zweifelhaft. AVONEX verteuert die Behandlung gegenüber BETAFERON mit Jahreskosten von 30.000 DM um 16%. Ein Gegenwert für diese Mehraufwendungen lässt sich nicht absichern. AVONEX sollte u.E. nur innerhalb kontrollierter - vom Hersteller finanzierter - Studien verwendet werden.

*  Für die weniger pferdeinteressierten Leser: Piaffe = Trab auf der Stelle.


© 1997 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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