Eine 68-jährige Rentnerin erhält zur Blutungsprophylaxe im Rahmen einer Hüftgelenksoperation das Antifibrinolytikum Aprotinin
(TRASYLOL). Etwa 15 bis 20 Minuten nach Infusionsbeginn entwickelt sie Luftnot, Bradykardie und Blutdruckabfall. Wegen Verdachts auf anaphylaktischen
Schock muss die Operation abgebrochen werden (NETZWERK-Bericht 11.265). Bei einer 62-jährigen Frau wird wegen Blutdruckabfalls und Bradykardie etwa
30 Minuten nach Aprotinin-Infusion ebenfalls auf eine geplante Hüftgelenksoperation verzichtet. Einen Monat später reagiert sie unmittelbar nach erneuter
perioperativer Anwendung von Aprotinin mit Kreislaufversagen. Die Kreislaufverhältnisse können zunächst stabilisiert werden. Eine halbe Stunde
später fällt eine diffuse Blutungsneigung auf. Unter dem Vollbild einer Verbrauchskoagulopathie mit zunehmendem Blutverlust versagt der Kreislauf erneut.
Die Patientin verstirbt im hämorrhagischen Schock (Bericht 11.262, 11.263).
Aprotinin wird aus Rinderlungen gewonnen. Das Polypeptid wirkt antifibrinolytisch durch Hemmung von Trypsin, Plasmin sowie Plasma- und Gewebskallikrein. Bei
kardiochirurgischen Eingriffen mit extrakorporaler Zirkulation ist ein Nutzen hinreichend gesichert. Neben der Transfusionsrate und -menge sinkt auch die
Häufigkeit erneuter Operationen wegen Blutung. Weitere plazebokontrollierte Studien werden nicht mehr für erforderlich und vertretbar erachtet.1
Für die Unfallchirurgie und die orthopädische Chirurgie ist die Datenlage deutlich schlechter. Dabei ist die Verwendung in der
Hüftchirurgie noch am besten untersucht. Nach einer aktuellen Übersicht dokumentieren fünf von sieben älteren Studien eine
Senkung des Bedarfs an Erythrozytenkonzentraten (zwischen 0,6 und 1,9 pro Eingriff).2 In sechs Studien nimmt der intra- und postoperative Blutverlust ab
(zwischen 0,4 l und 1,1 l). Blutverlust und Transfusionsbedarf variieren allerdings zwischen den einzelnen Studien erheblich. Eine Verringerung von operativen
Revisionen ist nicht belegt.
In einer von drei neueren plazebokontrollierten Studien bei Hüftgelenksersatz mit 60 Patienten bleibt ein Effekt von einmal 1,5 Mio. E. Aprotinin auf Blutverlust,
Transfusionsbedarf oder postoperative Hb-Werte aus.3 In einer weiteren mit 30 Patienten (0,5 Mio. E. Aprotinin präoperativ und pro Operationsstunde)
nimmt der Blutverlust um 350 ml ab. Der mittlere Hb liegt sieben Tage nach dem Eingriff 1,3% höher. Autologe Bluttransfusionen werden jedoch nicht seltener
erforderlich.4 In der größten Studie mit 300 Patienten werden drei Aprotinin-Dosierungen (1 x 0,5 Mio. E.; 1 x 1 Mio. E. plus 0,25 Mio. E./h; 1 x 2
Mio. E. plus 0,5 Mio. E./h) mit Plazebo verglichen.5 Der Anteil der Patienten mit Transfusionsbedarf bis zum siebten postoperativen Tag ist nur unter der
niedrigen (28%) und der hohen (27%) Aprotinin-Dosis kleiner als unter Plazebo (47%). Eine Dosiswirkungsbeziehung fehlt somit. Ein Nutzen lässt sich zudem nur
für Patienten mit vorheriger Eigenblutspende sichern. Der intra- und postoperative Blutverlust nimmt unter allen drei Dosierungen ähnlich ab (240 ml bis 330
ml). Ob die Notwendigkeit erneuter Operationen beeinflusst wird, ist nicht untersucht.
Allergische Reaktionen auf Aprotinin wie Exanthem, Urtikaria oder lebensbedrohliche Anaphylaxie sind in bis zu 1% beschrieben, vereinzelt auch nach
Testdosis. Bei Reexposition können bis zu 10% der Patienten betroffen sein. Auch lokale Fibrinkleber können eine Sensibilisierung
auslösen.6 Der prädiktive Wert spezifischer IgG- und IgE-Antikörper ist unklar.
Aprotinin wird mit venösen und arteriellen Thrombosen einschließlich Lungenembolien und Myokardinfarkten sowie mit Thrombozytopenien
und Gerinnungsstörungen in Verbindung gebracht.6 Die in mehreren Einzelberichten genannte disseminierte intravasale Gerinnung wird
mit indirekten prokoagulatorischen Wirkungen von Aprotinin erklärt.6-8
Rinderlunge gilt hinsichtlich der möglichen BSE-Übertragung als mäßig infektiöses Material (Risiko-Kategorie III;
I = sehr hohes, IV = kein Infektionsrisiko). Nach Angaben des Paul-EHRLICH-Instituts soll durch Überwachung der Herkunft der Rinder sowie des
Herstellungsverfahrens die BSE-Sicherheit von Aprotinin gewährleistet sein.9 Garantieren lässt sich die Unbedenklichkeit jedoch nicht. Den
internationalen Rohstoffhandel kann die Behörde beispielsweise gar nicht überwachen (a-t 2001; 32: 13-
4).
FAZIT: Beim derzeitigen Kenntnisstand erscheint ein Nutzen des Antifibrinolytikums Aprotinin (TRASYLOL) bei kardiochirurgischen Eingriffen mit extrakorporaler
Zirkulation gesichert. Bei Hüftgelenksoperationen lässt sich die routinemäßige Blutungsprophylaxe mit dem Polypeptid hingegen nicht
begründen. Ein Nutzen ist bei dieser Indikation nicht hinreichend belegt, das Risiko einer allergischen Reaktion jedoch besonders bei erneuter Anwendung
beträchtlich.
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