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RETARDIERTE NIKOTINSÄURE (NIASPAN)

Vor fast 30 Jahren wurden die Ergebnisse des Coronary Drug Project veröffentlicht, einer randomisierten, plazebokontrollierten Langzeitstudie, in der der Einfluss von Lipidsenkern wie Clofibrat (früher REGELAN N u.a.), konjugierter Östrogene (PRESOMEN u.a.) und anderer Arzneimittel auf die Sterblichkeit von Männern mit Herzinfarkt in der Vorgeschichte untersucht werden sollte. Für täglich 3 g eines schnell anflutenden Nikotinsäure-Präparates (früher NICONACID FORTE) ergab sich ein gegenüber Scheinmedikament geringeres Risiko eines erneuten nicht tödlichen Infarktes (einer der sekundären Endpunkte, 5-Jahres-Risiko 8,9% versus 12,2%). Vorhofflimmern und andere Arrhythmien kamen dagegen signifikant häufiger vor. Ein Einfluss von Nikotinsäure auf die Gesamtsterblichkeit ließ sich nicht belegen.1 Erst in einer ursprünglich nicht geplanten, methodisch zweifelhaften Nachbeobachtung neun Jahre nach Studienende fand sich auch eine deutlich verringerte Mortalität.2

Wegen häufiger unangenehmer Störwirkungen hat Nikotinsäure keine breite Verwendung gefunden. Vor allem unter schnell freisetzenden Präparaten klagen nahezu alle Patienten über ein Flush-Syndrom mit Wärmegefühl, Hautrötung, Juckreiz und Kribbeln, das viele Betroffene zum Absetzen zwingt. Bei retardierten Zubereitungen soll dieser Effekt seltener auftreten. Dafür schädigen diese offenbar häufiger als schnell freisetzende Präparate die Leber.3

"Verzögerte Freisetzung für hohe Verträglichkeit",4 bewirbt Merck das seit Mai erhältliche retardierte Nikotinsäure- Präparat NIASPAN. Mit ihm soll "das bis dahin mit Nikotinsäure verbundene Problem der harmlosen, aber unangenehmen Flush-Symptomatik gelöst" sein.5 NIASPAN ist zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen in Kombination mit CSE-Hemmern zugelassen, wenn deren Cholesterin-senkende Wirkung nicht ausreicht. Allein darf es nur bei Unverträglichkeit von Statinen angewendet werden.6

EIGENSCHAFTEN: Nikotinsäure (Synonym: Niacin) wird dem wasserlöslichen Vitamin-B-Komplex zugerechnet und ist in vielen Nahrungsmitteln enthalten. Bereits bei Einnahme von täglich 50 mg können Flush-Symptome auftreten, nicht aber bei Aufnahme mit der Nahrung. Nikotinsäure hemmt unter anderem die Freisetzung freier Fettsäuren aus dem Fettgewebe, deren Veresterung zu Triglyzeriden und den Einbau in VLDL, so dass weniger LDL gebildet wird.6

NIASPAN soll vor dem Schlafengehen nach einem fettarmen Imbiss eingenommen werden. Die Dosis wird stufenweise gesteigert bis zu einer Erhaltungsdosis von täglich 1 g bis 2 g. "Längere" Einnahmepausen erfordern eine erneute Dosistitration, ebenso der Wechsel von einem anderen Nikotinsäure-Präparat auf NIASPAN.6

WIRKSAMKEIT UND VERTRÄGLICHKEIT: In mehreren plazebokontrollierten Studien senken 1 g bis 2 g NIASPAN erhöhte LDL-Werte (etwa 220 mg/dl) um 7% bis 16% und Triglyzeride von eingangs 160-172 mg/dl um 16% bis 38%. Das HDL steigt um 14% bis 22%.7 Im direkten Vergleich reduzieren 1,5 g NIASPAN und 1,5 g nicht retardierte Nikotinsäure das LDL jeweils um 12%, während 3 g nicht retardierte Nikotinsäure das LDL um 22% senkt.8 Bei Patienten mit Typ-IIa- oder -IIb-Hyperlipidämie nehmen die LDL-Spiegel unter kombinierter Einnahme von Lovastatin (MEVINACOR u.a.) und retardierter Nikotinsäure stärker ab als unter Lovastatin allein.9 Randomisierte kontrollierte Studien zum Einfluss von NIASPAN auf klinische Endpunkte gibt es nicht.

Abbrecherquoten von bis zu 47%10 unter NIASPAN mindern die Aussagekraft einiger Studien erheblich, zumal meist keine Intention-to-treat (ITT)-Analyse erfolgt. Eine der häufigsten Ursachen für vorzeitiges Ausscheiden sind Flush-Symptome, über die bis zu 88% der Teilnehmer klagen.3 Die Beschwerden können unter anderem mit Schwindel, Tachykardie, Kurzatmigkeit, Schwitzen und Synkope einhergehen.6 Ein Nutzen der in den Studien erlaubten vorübergehenden Einnahme von ASS (ASPIRIN u.a.) zur Minimierung von Flush-Symptomen, die auch in der US-amerikanischen Produktinformation7 angeraten wird, ist nicht erkennbar. Wie bei nicht retardierter Nikotinsäure ist häufig mit Magen-Darm-Beschwerden wie Durchfall, Übelkeit und Erbrechen sowie Juckreiz und Hautausschlag zu rechnen.6

Unter NIASPAN wird in der Mehrzahl der veröffentlichten Studien ein Anstieg des mittleren GOT-Wertes beobachtet. Sofern angegeben, steigt die GOT bei etwa 2% auf mehr als das Zweifache des oberen Normwertes.3,10 Während der Behandlung sind die Transaminasen "in regelmäßigen Abständen" zu kontrollieren.6 Bei Lebererkrankungen in der Vorgeschichte oder erheblichem Alkoholkonsum ist von der Einnahme abzuraten. Weitere Laborwertveränderungen betreffen eine Erhöhung des Harnsäure-Spiegels sowie eine Abnahme der Thrombozytenzahl und einen Anstieg der Prothrombinzeit. Dies ist bei Patienten mit einer Veranlagung zur Gicht, vor Operationen sowie bei gleichzeitiger Anwendung von Antikoagulanzien zu berücksichtigen.6

Vorsicht: Meinungsbildner propagieren das retardierte Nikotinsäure-Präparat bei Diabetikern,5 ohne darauf hinzuweisen, dass NIASPAN dosisabhängig eine Glukoseintoleranz verstärken kann.6 In einer Studie müssen 15 (29%) von 52 Patienten mit zuvor stabilem Typ-2- Diabetes unter 1,5 g NIASPAN die Dosis ihrer Antidiabetika erhöhen oder zusätzlich weitere blutzuckersenkende Mittel einnehmen.11

KOSTEN: Eine mittlere Erhaltungsdosis von 1,5 g NIASPAN kostet pro Monat 44,41 €. Bei Einnahme zusätzlich zum CSE-Hemmer Simvastatin (ZOCOR FORTE u.a., 23,96-55,05 €/Monat bei täglich 40 mg, siehe auch S. 61) steigen die monatlichen Behandlungskosten gegenüber Simvastatin allein auf das 1,8- bis 2,8fache.

 Das retardierte Nikotinsäure-Präparat NIASPAN beeinflusst Lipidwerte günstig. Ein Effekt auf klinische Ereignisse ist jedoch nicht belegt.

 Ergebnisse aus früheren Studien mit nicht retardierter Nikotinsäure lassen sich nicht auf die neue Zubereitung übertragen.

 Wie ältere Nikotinsäure-Präparate fällt NIASPAN durch häufige, belastende Störwirkungen auf.

 Das retardierte Nikotinsäure-Präparat ist ein Mittel der ferneren Reserve, wenn Statine nicht vertragen werden oder unzureichend wirken.


© 2004 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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