logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2005; 36: 73nächster Artikel
Korrespondenz

SUBLINGUALE HYPOSENSIBILISIERUNG: NEUE BEWERTUNG?

Ich bitte um Stellungnahme zum Stellenwert der sublingualen Hyposensibilisierung mit Präparaten wie STALORAL bei Heuschnupfen und Asthma. Ergebnisse, Wirksamkeit, Kosten, Literatur?

Dr. med. U.M. MÖSCHLER (Arzt für Allgemeinmedizin)
D-53115 Bonn
Interessenkonflikt: keiner

Die sublinguale Hyposensibilisierung soll gegenüber der "klassischen" subkutan durchgeführten Behandlung den Vorteil einer geringeren Belastung für die Patienten und weitgehenden Störwirkungsfreiheit besitzen. Vor sechs Jahren kamen wir zu dem Schluss, dass aufgrund unzureichend belegter Wirksamkeit und unklarer Dosierung die Sublingualtherapie (SLIT) lediglich im Rahmen kontrollierter Studien zu rechtfertigen sei (a-t 1999; Nr. 8: 84). Die Verschiebung der lymphozytären Immunantwort nach Allergenexposition in eine "anerge" Verlaufsform, die bei subkutaner Hyposensibilisierung für den Therapieerfolg verantwortlich sein soll, ist für die sublinguale Anwendung offenbar nicht nachgewiesen.1 Trotz unzureichender Nutzenbelege hat ein Expertengremium in Zusammenarbeit mit der WHO 1999 eine Empfehlung z.B. für Patienten gegeben, die eine Injektionsbehandlung ablehnen oder dabei systemisch reagieren.2 In der Zwischenzeit ist eine COCHRANE- Übersicht zur Evidenz bei allergischer Rhinitis erschienen.3 Die Autoren kommen nach systematischer Auswertung der zwischen 1994 und September 2002 erschienenen Studien zu dem Ergebnis, dass die sublinguale Immuntherapie die Symptome mindert und den Medikamentenbedarf senkt. Ein Vergleich mit subkutaner Hyposensibilisierung sei jedoch aufgrund mangelnder Daten nicht möglich. Für Kinder ist kein Nutzen gesichert.3 In dem Review wird auf einen Interessenkonflikt hingewiesen, der in einer Zweitpublikation4 verschwiegen wird.

Die positive Bewertung beruht zudem auf fragwürdiger Datenbasis. 6 der 21 in das COCHRANE Review eingeschlossenen Studien werden in einem 2005 veröffentlichten HTA*-Report, in dem die Datenlage zur SLIT bei saisonalen und ganzjährigen Allergien auf Grundlage weitgehend identischer Studienselektion ebenfalls systematisch ausgewertet wird, als methodisch schlecht beurteilt.5 Weitere 9 Studien weisen erhebliche Defizite auf, lediglich 2 werden als methodisch gut bewertet. Die Abbruchraten in den kleinen Studien mit Patientenzahlen zwischen 16 und 126 sind hoch (bis 20%). Dennoch fehlt meist eine Intention-to-treat-Analyse. Ausgewertet werden oft nur jene Patienten, die protokollgerecht behandelt wurden. Dadurch können Ergebnisse systematisch zu Gunsten der Intervention beeinflusst werden. Die gegenüber subkutaner Immuntherapie deutlich höheren Dosierungen unterscheiden sich in den Studien ebenso wie die Länge der Therapie, sodass Standards nicht etabliert sind. Die Erfolgskriterien werden in den Arbeiten nicht einheitlich definiert. Für die verwendeten Beschwerdeskalen, oftmals Scores, in die Symptome und Medikamentengebrauch einfließen, wird keine Validierung nachgewiesen. So bleibt unklar, ob die gemessenen Effekte überhaupt eine klinische Bedeutung haben. Die Autoren des HTA-Reports kommen zu einer negativen Bewertung.5

*

HTA = Health Technology Assessment, Methode einer systematischen Bewertung von Technologien und medizinischen Verfahren mit Bedeutung für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung.

Auch bei neueren Studien, die noch nicht in die systematischen Übersichten einfließen und zum Großteil zu positiven Ergebnissen kommen, bestehen erhebliche methodische Mängel.6-14 Die Randomisierung wird vielfach nicht beschrieben, und Endpunkte sind unzureichend definiert.8,10,12,13 Die Abbruch-Raten liegen zwischen 14% und 34%, wobei Studienabbrecher auch hier bei der Ergebnisberechnung meist unberücksichtigt bleiben.6-10,12-14 Bei negativem Ausgang werden in einer Studie nachträglich "erfolgreich" behandelte Subgruppen gebildet,9 ein klassisches Beispiel für Datenmanipulation. In einer Zweijahresstudie werden nur Ergebnisse nach einem Jahr berichtet - angeblich wegen niedriger Pollenbelastung im zweiten Studienjahr.7

Die einzige kontrollierte Langzeitstudie mit 60 Kindern zwischen 3 und 17 Jahren misst die Entstehung von Asthma in einem 10-Jahreszeitraum. Auch diese Studie ist wegen willkürlicher Therapiezuteilung (die Eltern entscheiden sich für oder gegen die Behandlung) ohne Beweiskraft.15

Störwirkungen beschränken sich in den publizierten Studien vor allem auf lokale Beschwerden wie Brennen und leichte Schmerzen. Wie sie erfasst werden, bleibt unklar. Angioödem, anaphylaktische Reaktionen und Asthmasymptome sind bei der Anwendung beschrieben (a-t 1999; Nr. 8: 84).

 In den letzten Jahren sind zahlreiche kontrollierte Studien zur sublingualen Hyposensibilisierung erschienen. Aufgrund der schlechten Qualität eignen sich auch diese nicht zum Beleg der Wirksamkeit der Methode.

 Studien zur Dosisfindung und sinnvollen Therapiedauer finden wir nicht.

 Wir raten weiterhin von der sublingualen Hyposensibilisierung außerhalb von methodisch guten Studien ab.


 

 

(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)

 

1

REIDER; N.: Int. Arch. Allergy Immunol. 2005; 137: 181-6

 

2

BOUSQUET, J. et al.: Allergy 2002; 57: 814-55

M

3

WILSON, D.R. et al.: Sublingual immunotherapy for allergic rhinitis. The COCHRANE Database of Systematic Reviews 2003, Issue 2, letzte Änderung 11. Febr. 2003

M

4

WILSON, D.R. et al.: Allergy 2005; 60: 4-12

 

5

Technology Evaluation Center 2005: Sublingual Immuno Therapy for Adults: http://www.bcbs.com/tec/Vol18/18_04.pdf

R

6

ROLINCK- WERNINGHAUS, C. et al.: Allergy 2004; 59: 1285-93

R

7

KHINCHI, M.S. et al.: Allergy 2004; 59: 45-53

R

8

MAROGNA, M. et al.: Allergy 2004; 59: 1205-10

R

9

BUFE, A. et al.: Allergy 2004; 59: 498-504

R

10

TONNEL, A.B. et al.: Allergy 2004; 59: 491-7

R

11

SMITH, H. et al.: J. Allergy Clin. Immunol. 2004; 114: 831-7

R

12

MAROGNA, M. et al.: J. Allergy Clin. Immunol. 2005; 115: 1184-8

R

13

PAJNO, G.B. et al.: Allergy 2004; 59: 883-7

R

14

NOVEMBRE, E. et al.: J. Allergy Clin. Immunol. 2004; 114: 851-7

 

15

Di RIENZO et al.: Clin. Exp. Allergy 2003; 33: 206-10

© 2005 arznei-telegramm

Autor: angegebene Leser bzw. Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.