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Übersicht

IMMUNTHERAPIE (HYPOSENSIBILISIERUNG)
ALLERGISCHER ERKRANKUNGEN (I)*

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Der zweite Teil (Insektengiftallergien und Asthma sowie Störwirkungen) folgt in der nächsten Ausgabe

Die spezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung) mit subkutan injizierten Allergenextrakten wird in Expertenempfehlungen und Leitlinien bei IgE-induzierten allergischen Erkrankungen wie Heuschnupfen neben Allergenkarenz und Pharmakotherapie (z.B. Antihistaminika, Kortikoidinhalate) angeraten.1 -3 Sie soll akute Allergen-induzierte Symptome lindern, den Medikamentenbedarf reduzieren, weitere Sensibilisierungen gegenüber anderen Allergenen verringern, bei Heuschnupfen den Übergang in Asthma bronchiale verhindern und bei Insektengift-Allergien anaphylaktische Reaktionen verhüten. Bei den potenziell bedrohlichen Insektengiftallergien (Bienen, Wespen, bestimmte Ameisen) gilt die Immuntherapie als Prophylaxe-Standard.1

Diese Übersicht gibt die Datenlage zur subkutanen Verabreichung wieder. Von der zunehmend propagierten sublingualen Immuntherapie raten wir auf Grund der unzureichenden Studienlage unverändert ab (a-t 2005; 36: 73).

WIRKMECHANISMUS: Die Immuntherapie wird - neben Allergenkarenz - oft als einzige kausale Behandlungsmaßnahme allergischer Erkrankungen bezeichnet. Der Wirkmechanismus ist jedoch nach wie vor nicht vollständig geklärt. Belegt ist die veränderte Immunantwort bei Allergenkontakt nach subkutaner Injektion: Statt der T-Helfer (TH)-2-Lymphozyten, deren Aktivität die Grundlage der allergischen Entzündung darstellt, werden unter Behandlung vermehrt T-Helfer (TH)-1-Lymphozyten aktiviert, die zu einer "ausgeglichenen" Reaktion führen. Zusätzlich bilden T-Zellen vermehrt Toleranz induzierendes Interleukin-10. Daneben wird die Ausschüttung entzündlicher Mediatoren aus weißen Blutkörperchen gehemmt. Allergenspezifisches, die Immunreaktion blockierendes IgG wird vermehrt, IgE teilweise vermindert produziert.4-6 Das Ausmaß der immunologischen Veränderungen korreliert jedoch nicht mit der klinischen Wirksamkeit. Bei sublingualer Applikationsform finden sich die immunologischen Veränderungen nur vereinzelt.5

PRODUKTVIELFALT: Die Vielzahl verschiedener Allergenextrakte mit unterschiedlichen Herstellungs- und Standardisierungsverfahren erschwert den Überblick und die Vergleichbarkeit. 275 Allergenextrakte sind als Fertigarzneimittel zugelassen.7 Es handelt sich dabei sowohl um "native" Allergenextrakte als auch um chemisch modifizierte "Allergoide", die jeweils entweder als wässrige Extrakte oder, gekoppelt an Trägersubstanzen wie Aluminiumhydroxid, Tyrosin oder Kalziumphosphat, als so genannte Semidepot-Extrakte mit verzögerter Verteilung im Gewebe angeboten werden. Neben diesen auf "biologische Äquivalenz" (gemessen anhand der Hautreaktion bei sensibilisierten Testpersonen) und Gesamtaktivität (mit Hilfe von IgE- Inhibitionstests) standardisierten Allergenextrakten, die vom Paul-Ehrlich-Institut zugelassen werden, sind auch nicht zulassungspflichtige Individualrezepturen in Gebrauch. Für diese müssen lediglich die Anforderungen für Good Manufacturing Practice (GMP) erfüllt werden. Eine behördliche Kontrolle von Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit ist nicht erforderlich.2,8 In Deutschland sollen etwa 50% aller Hyposensibilisierungen mit Individualrezepturen erfolgen.9

DURCHFÜHRUNG DER BEHANDLUNG:1,2,10,11 Die Hyposensibilisierung soll ausschließlich von allergologisch ausgebildeten und erfahrenen Ärzten durchgeführt werden. Voraussetzung sind Kenntnisse und Ausrüstung zur akuten Intervention bei schweren systemischen Unverträglichkeitsreaktionen (Asthmaanfall, anaphylaktischer Schock). Die Patienten müssen nach Injektion mindestens 30 bis 45 Minuten lang in der Praxis unter Beobachtung bleiben, Risikopatienten länger.1,2 Die meisten, jedoch nicht alle akuten Reaktionen treten in diesem Zeitraum auf.12

Während bei ganzjährigen Allergien (z.B. Milben) der Therapiebeginn beliebig ist, wird die Behandlung bei den saisonalen Pollenallergien in der expositionsfreien Zeit im Herbst eingeleitet und mit Beginn des Pollenflugs unterbrochen (präsaisonale Behandlung) oder - bei Beschwerdefreiheit - in identischer oder niedrigerer Dosierung fortgeführt (ganzjährige Behandlung). Neben ganzjährigen Therapien werden auch Kurzzeittherapien über wenige Wochen z.B. bis zur Pollenflugsaison durchgeführt.2

Auch bei Vorliegen mehrfacher Allergien kann die Behandlung mit einer einzelnen Allergenquelle ausreichen, wenn eine deutliche Kreuzreaktivität besteht (z.B. Therapie mit Birkenpollenextrakt bei Sensibilisierung durch Hasel, Erle und Birke). Ist eine Behandlung mit mehreren Allergenquellen unterschiedlicher Art erforderlich, wie bei der Kombination mit Schimmelpilz plus Gräserpollen, sollten die Extrakte wegen der Möglichkeit einer Wirkabschwächung nicht gemischt werden.1,11

Die Behandlung beginnt mit einem Bruchteil (1/1.000 bis 1/10.000) der angestrebten maximalen Konzentration, die je nach Extrakt über ein bis vier Monate mit wöchentlichen Injektionen gesteigert wird. Ist die Zielkonzentration erreicht oder kommt es zu ausgeprägten lokalen Reaktionen, erfolgt eine Erhaltungsbehandlung mit dieser Dosis in vier- bis sechswöchigen Abständen. Ausreichend hohe Konzentrationen scheinen für den Therapieerfolg wichtig zu sein.1 Bei ausgeprägten systemischen Reaktionen ist jedoch die Dosis deutlich zu reduzieren. 1,2

Mit so genannten "Rush"- oder "Cluster"-Regimen sollen therapeutisch wirksame Erhaltungsdosierungen in wesentlich kürzerer Zeit aufgebaut werden,11 indem innerhalb weniger Tage bis Wochen aufdosiert wird, anfangs gegebenenfalls stationär. Diese Verfahren gehen jedoch mit einer Zunahme unerwünschter Wirkungen einher.11,13 Es ist unklar, ob dies am Dosierungsschema oder an den wässrigen Extrakten liegt, die oftmals für die rasche Aufdosierung verwendet wurden.9

Die optimale Behandlungsdauer ist nicht bekannt. Empfohlen wird bei aerogenen Allergenen eine Therapie über mindestens drei Jahre, bei Insektengiftallergien über drei bis fünf Jahre, bei hohem Risiko lebenslang.1,2 Uneinigkeit besteht, ob die Behandlung nach einem1 oder zwei2 Jahren abgebrochen werden soll, wenn ein Therapieerfolg ausbleibt.

KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Streng genommen müsste der Nutzen aller angebotenen Allergenextrakte getrennt bewertet werden, da sie sich in Herstellungsverfahren, Trägersubstanzen und Standardisierung unterscheiden und die Wirksamkeit daher selbst bei identischen Allergenquellen verschieden sein kann. Zudem fehlen Therapiestandards hinsichtlich Dosisregime und Auswahl eines Extraktes. Oft wird gegen eine Vielzahl von Allergenen gleichzeitig "geimpft", was in kontrollierten Studien unzureichend untersucht ist. Studiendaten lassen sich daher nur sehr eingeschränkt auf die klinische Realität übertragen.

Allergische Rhinokonjunktivitis (Heuschnupfen): Unsere Literatursuche fördert zahlreiche, meist kleine (unter 100 Patienten) randomisierte kontrollierte klinische Studien zu Tage.** Die meisten (46 Studien) betreffen Gräserpollen (z.B. Wiesenlieschgras oder Mischungen von Gräsern) und Baumpollen (Hasel, Birke, Erle). Elf Untersuchungen finden wir für Hausstaub- bzw. Hausstaubmilben- und nur einzelne Studien zu Schimmelpilz- oder Tierhaar-Allergien. Die Patienten leiden an typischen Heuschnupfensymptomen, zum Teil an leichten Asthmabeschwerden. Es bestehen jeweils ein klarer Bezug der Symptomatik zur Allergenexposition und ein positiver Hauttest. Das Mindesteinschlussalter liegt meist bei 18 Jahren. Nur in drei Studien werden ausschließlich Kinder bzw. Jugendliche berücksichtigt, häufiger (14 Studien) werden sie zusätzlich zu Erwachsenen randomisiert und machen einen kleinen Teil der Studienpopulation aus.

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Die vollständige Literaturliste kann bei der Redaktion angefordert werden.

Bei Evaluierung der Untersuchungen fällt deren überwiegend schlechte methodische Qualität auf. Hauptprobleme sind unzureichende oder unklar beschriebene Randomisierung, offenes Design, fehlende Definition des primären Endpunktes und Auswertung multipler Endpunkte ohne entsprechende stastistischen Korrekturen. Die Vielzahl möglicher, eventuell erst nachträglich etablierter Auswertungen öffnet biometrischer Willkür Tür und Tor. Schadwirkungen werden oft unzureichend erfasst und in vielen Studien gar nicht thematisiert. Unklar bleibt die Zahl unveröffentlichter "Negativstudien" (Publikationsbias).

Eine überprüfbare Datenbasis zu den häufig benutzten Individualrezepturen existiert nicht. Daher ist ein großer Teil der in der Praxis durchgeführten Immuntherapien trotz der großen Publikationsfülle nicht "evidenzbasiert".

In den Wirksamkeitsstudien werden in der Regel nicht validierte Symptom-Scores ausgewertet - bei saisonalen Allergien während des Pollenflugs. Symptome an Nase, Augen und Bronchien werden in Schweregrade 0 (keine Symptome) bis 3 (schwere Symptome) eingeteilt, die Punktwerte für die statistische Auswertung tage- oder wochenweise, zum Teil auch über die gesamte Pollenflugsaison addiert. In "Medikamenten-Scores" geht der Gebrauch von Bedarfsmedikationen wie Antihistaminika und Glukokortikoiden ein mit unterschiedlicher, in den Studien wiederum uneinheitlicher Gewichtung. In einem Teil der Untersuchungen wird als Hauptkriterium ein Symptom-Medikamenten-Gesamtscore errechnet, dessen Bedeutung für das Befinden der Patienten jedoch völlig unklar bleibt. Die Studienresultate lassen sich wegen unterschiedlicher Definition der Endpunkte nicht direkt vergleichen. Die Lebensqualität wird nur in wenigen Untersuchungen anhand validierter Fragebögen geprüft.14,15

In den meisten Studien wird eine Symptomlinderung bei Spontanexposition mit Allergenen und/oder Provokationstests sowie verringerter Medikamentenbedarf beschrieben.

Die in der aktuellen deutschen S-2-Leitlinie***2 angegebene globale Besserung von Beschwerden und Senkung des Medikamentenverbrauchs bei Allergien gegen Pollen um etwa 45% und gegen Hausstaubmilben um 30% spiegelt zwar ungefähr die Größenordnung der beschriebenen Effekte wider, ist aber auf Grund der gravierenden methodischen Defizite und der ausgeprägten Heterogenität der Studien wenig valide.

***

S2-Leitlinien = Leitlinien mit formaler Konsensusfindung und Diskussion der Evidenz, jedoch nicht mit allen Elementen systematischer Erstellung.

Eine aktuelle, methodisch befriedigende plazebokontrollierte Studie15 mit 410 Patienten, die gegen Gräserpollen (Wiesenlieschgras) allergisch sind, erlaubt eine Abschätzung des potenziellen Nutzens für diese Behandlungssituation: Während der gesamten Pollenflugsaison über zweieinhalb Monate verringern sich allergische Symptome unter der Behandlung mit einem hoch dosierten, alle sechs Wochen gegebenen standardisierten Gräserpollenextrakt um etwa einen Punkt, während der dreiwöchigen maximalen Pollenbelastung um ca. 2 Punkte gegenüber Plazebo. Dies bedeutet, dass sich im Gesamtzeitraum durch die Behandlung ein Allergiesymptom von Nase, Augen oder Bronchien im Vergleich zu Plazebo durchschnittlich um einen Schweregrad (zum Beispiel von "schwer" auf "moderat") bessert. Gemäß einem validierten Fragebogen steigt die Lebensqualität in fünf von sieben der geprüften Kategorien gegenüber Plazebo.

Durch Anreicherung eines Allergenextraktes mit ß-Glukuronidase sollen sich die Dosierungen und damit die Störwirkungen verringern lassen, ohne dass die Wirksamkeit darunter leidet (so genannte Enzym-potenzierte Immuntherapie). Wenige Injektionen sollen für eine Wirksamkeit ausreichen. Diese veränderten Zubereitungen scheinen jedoch nicht zu funktionieren: In einer methodisch sorgfältig durchgeführten Studie bei 185 Patienten mit einer Mischung aus Baum- und Gräserpollen sowie Katzen- und Hundeschuppen bleibt die Behandlung ohne Nutzen. Die zweimalige Injektion dieses Extraktes hat keinen Einfluss auf die Zahl beschwerdefreier Tage (primärer Endpunkt) oder auf die Lebensqualität.16

Der Verlauf nach Absetzen von Immuntherapien ist wenig untersucht. 32 Patienten mit Gräserpollen-Allergien, die drei bis vier Jahre lang erfolgreich behandelt wurden, erhalten randomisiert entweder weiterhin die Immuntherapie oder Plazebo.17 Eine (nicht randomisierte) Gruppe, die nachträglich gebildet wird, dient als unbehandeltes Vergleichskollektiv. Hinsichtlich der Symptom- und Medikamenten-Scores lässt sich innerhalb von drei Jahren kein Unterschied zwischen Fortführung und Absetzen der Immuntherapie erkennen. Die unbehandelte Gruppe hat in diesem Zeitraum mehr Beschwerden und einen höheren Medikamentenverbrauch als die beiden anderen Gruppen. Dieser Vergleich ist jedoch wegen der nachträglichen, nicht zufälligen Zuteilung der Patienten ohne Aussagekraft. In einer anderen sechsjährigen offenen Nachbeobachtung von 36 Patienten mit Baumpollen- Allergien, die drei Jahre lang behandelt wurden, berichten zwei Drittel über einen anhaltenden Therapieerfolg. In der Subgruppe der Patienten mit gleichzeitigem Asthma leiden jedoch 21% unter erneut aufgetretenen Symptomen.18

Ob eine Immuntherapie den Übergang in Asthma ("Etagenwechsel") verhindert, wird in einer offenen randomisierten Studie mit 205 Kindern zwischen 6 und 14 Jahren untersucht. Nach drei Jahren soll das Asthmarisiko in der unbehandelten Patientengruppe 2,5fach höher liegen als unter Immuntherapie.19 Noch unveröffentlichte, aktuell auf einem Kongress vorgestellte Daten dieser Untersuchung sollen die Wirksamkeit auch noch nach weiteren sieben Beobachtungsjahren belegen.20 Die Studie wird oft als Beweis für die prophylaktische Wirksamkeit zitiert. Offenes Design, fehlende Plazebokontrolle, mangelhafte Angaben zur Randomisierung und unverblindete Erfassung der Endpunkte schränken ihre Aussagekraft jedoch stark ein. Zu Beginn leiden bereits 40 der 205 Patienten unter Asthma, über deren Verlauf nicht gesondert berichtet wird. Die Asthmainzidenz ist zudem in der Nachbeobachtungsphase, vermutlich auf Grund einer unüblichen Krankheitsdefinition, ungewöhnlich hoch.21

  • Trotz der Vielzahl der Therapiestudien mit standardisierten Fertigpräparaten zur subkutanen Immuntherapie ist diese auf Grund der überwiegend schlechten Studienqualität und der Diskrepanzen zwischen Studiendesign und
  • praktischer Durchführung nur eingeschränkt "evidenzbasiert".
  • Eine überprüfbare Datenbasis für die häufig verwendeten Individualrezepturen existiert nicht. Es sollten daher vorzugsweise standardisierte Fertigarzneimittel angewendet werden.
  • Bei Heuschnupfen geben zahlreiche, methodisch meist schlechte Studien Hinweise auf eine mäßige Linderung der Symptome nach "klassischer" subkutaner Hyposensibilisierung, vorausgesetzt, es besteht ein klarer Bezug der Symptomatik zur Allergenexposition. Die Datenlage ist für Pollenallergene noch am besten, der Effekt bei Hausstaubmilben scheint geringer zu sein. Schimmelpilz- und Tierhaarallergien sind wenig geprüft. Der Behandlungseffekt kann die Therapie möglicherweise überdauern. Ob der Übergang in ein allergisches Asthma (Etagenwechsel) wirklich verhindert werden kann, ist unzureichend belegt.

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