Zeitgleich mit der Empfehlung der Pneumokokkenimpfung für alle Säuglinge (a-t
2006; 37: 87-9) hat die Ständige Impfkommission (STIKO) die Empfehlung ausgesprochen, alle Kinder im zweiten Lebensjahr einmalig gegen
Meningokokkenerkrankungen der Serogruppe C zu impfen.1 Die gramnegativen Meningokokken werden nach Strukturmerkmalen der Polysaccharidkapsel
in Serogruppen eingeteilt, die nach dem Alphabet benannt sind (A, B, C etc.). Für die meisten Erkrankungen sind weltweit die fünf Serogruppen A, B, C, Y
und W135 verantwortlich.2 In Deutschland kommen überwiegend die Serogruppen B und C vor, wobei B-Meningokokken bei etwa zwei Drittel, C-
Meningokokken bei etwa einem Viertel der Erkrankungen gefunden werden.3 Ein Impfstoff gegen die Serogruppe B existiert nicht. Polysaccharidimpfstoffe,
von denen in Deutschland einer gegen die Serogruppen A und C (MENINGOKOKKEN-IMPFSTOFF A + C MERIEUX) sowie einer gegen A, C, W135 und Y
(MENCEVAX ACWY) angeboten werden, sind in den ersten Lebensjahren unzureichend immunogen. Für die Zielgruppe der neuen Impfempfehlung, die
einjährigen Kinder, sind drei Konjugatimpfstoffe gegen Meningokokkenerkrankungen der Serogruppe C verfügbar: In zwei Vakzinen sind die
Saccharidantigene an eine Mutante des Diphtherietoxins gekoppelt (MENINGITEC, MENJUGATE), in der dritten an Tetanustoxoid (NEISVAC-C).
Meningokokken werden durch Tröpfcheninfektion übertragen. Sie besiedeln die Schleimhaut des Nasen-Rachen-Raumes gesunder Menschen
altersabhängig bei bis zu über 30%. Invasive Meningokokkenerkrankungen sind dagegen selten. Die Inzidenz lag in Deutschland 2001 bis 2004 zwischen
0,73 und 0,94 pro 100.000 Einwohner und Jahr. Wie bei den Pneumokokkenerkrankungen sind vorwiegend Säuglinge und Kleinkinder betroffen. Einen
zweiten, aber kleineren Erkrankungsgipfel gibt es bei Jugendlichen.1,3 Im Vordergrund stehen zwei Krankheitsbilder: Meningokokken rufen nicht nur
Hirnhautentzündungen hervor, sondern auch die noch bedrohlicheren Septikämien. Besonders gefürchtet ist die fulminante Meningokokkensepsis,
die aus voller Gesundheit innerhalb weniger Stunden zum Tod führen kann. Die Letalität der in Deutschland 2001 bis 2004 gemeldeten invasiven
Meningokokkeninfektionen lag zwischen 7% und 9%.3 Spätfolgen bei Überlebenden beruhen hauptsächlich auf zentralnervösen
Schäden sowie auf Komplikationen einer disseminierten intravasalen Gerinnung und betreffen nach US-amerikanischen Daten 11% bis 19%.4
In mehreren europäischen Ländern werden Meningokokken-C-Konjugatimpfstoffe bereits seit Längerem allgemein empfohlen (z.B.
Großbritannien, Spanien, Niederlande), allerdings unterscheiden sich die empfohlenen Impfschemata. Die Inzidenz der Serogruppe-C-Erkrankungen war vor
Einführung der Impfung jedoch in Großbritannien mit jährlich 2,9 pro 100.000, in Spanien mit jährlich 7,0 pro 100.000 und in den Niederlanden
mit 2,3 pro 100.000 Einwohner deutlich höher als hierzulande in den Jahren 2001 bis 2004 mit 0,20 bis 0,26 pro 100.000 Einwohner pro Jahr.3
NUTZENDOKUMENTATION: Randomisierte kontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten gibt es unseres Wissens nicht. In Studien zur
Immunogenität von Meningokokken-C-Konjugatimpfstoffen erzielt die dreimalige Impfung im ersten Lebensjahr bei 97% bis 100% der Impflinge
Antikörpertiter, die als schützend erachtet werden.5 Bei älteren Kindern lässt sich bereits mit einer Dosis in hohem Prozentsatz eine als
ausreichend erachtete Immunogenität erzielen. Bei einmaliger Impfung im zweiten Lebensjahr, dem von der STIKO empfohlenen Schema, werden diese Titer in
einer vergleichenden Studie mit 226 Kindern je nach Vakzine bei 91% (MENINGITEC), 92% (MENJUGATE) bzw. 100% (NEISVAC-C) gemessen. Der Vorteil von
NEISVAC-C ist signifikant,6 die klinische Relevanz des Unterschiedes aber unklar.
Hinweise auf einen klinischen Nutzen lassen sich nur aus Beobachtungsstudien ableiten. Die längsten Erfahrungen gibt es in Großbritannien, wo bereits
1999 die dreimalige Impfung im zweiten bis vierten Lebensmonat in das Standardimpfprogramm aufgenommen und gleichzeitig eine Kampagne mit dem Ziel gestartet
wurde, die Immunisierung bei allen älteren Kindern und Jugendlichen mit einer Impfdosis (bei Fünf- bis Elfmonatigen zwei Dosierungen) nachzuholen
("catch up"). Die Zahl laborbestätigter invasiver C-Meningokokkenerkrankungen ging in den geimpften Jahrgängen im Juli 2000 bis April 2001
gegenüber dem gleichen Zeitraum 1998/99 um 80% von 537 auf 103 zurück.7 Die Effektivität des Impfstoffs, die anhand des Anteils
geimpfter Kinder an den Erkrankten und des Durchimpfungsgrades in der jeweiligen Altersstufe geschätzt wird, liegt im ersten Jahr nach Immunisierung
zwischen 87% und 98%.8 Auch eine Minderung der Schleimhautbesiedelung mit C-Meningokokken, die mit einem Herdeneffekt, also einer Reduktion der
Erkrankungsrate bei Nichtgeimpften einhergeht, ist zu beobachten.9,10 Ein ähnliches Impfschema wurde auch in Spanien mit vergleichbarer Wirkung
eingeführt.11
Erfolge werden aber auch aus Ländern wie den Niederlanden berichtet, in denen das Standardimpfprogramm, ähnlich wie jetzt von der STIKO empfohlen,
die Impfung von 12- bis 14-monatigen Kindern mit nur einer Dosis vorsieht.12,13 Die Einführung der neuen Routineimpfung war in diesen Ländern
jedoch fast immer mit einer Massenimpfkampagne verbunden, die ältere Kinder und Jugendliche zum Ziel hatte.12,14 In den Niederlanden geht diese
2002 initiierte Strategie mit einer Abnahme von C-Meningokokkenerkrankungen von 276 und 221 in den Jahren 2001 und 2002 auf 42 und 17 in den Jahren 2003
und 2004 einher.13
Die konsistente deutliche Minderung invasiver Infektionen mit Meningokokken der Serogruppe C nach Einführung der Massenimpfung in verschiedenen
Ländern spricht für eine ursächliche Rolle dieser Maßnahme. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Erfolgsraten auf
Surveillance-Daten beruhen, bei denen Untererfassung nach wie vor hoch ist.15 Gewisse Häufungsschwankungen kommen zudem auch ohne
Massenimmunisierung vor.
Unklar ist darüber hinaus die Dauer des Impfschutzes. Besonders bei der ganz frühen Immunisierung, wie sie in Großbritannien durchgeführt
wird, scheint die Effektivität rasch nachzulassen. Jenseits des ersten Jahres nach Impfung scheint hier kein Schutz mehr zu bestehen.8 Ältere Kinder
entwickeln anscheinend eine länger anhaltende Immunität. In den Niederlanden sind bei kurzer Nachbeobachtung von etwa zwei Jahren bislang keine
Impfversager bekannt geworden.13 In einer britischen Arbeit mit vierjährigem Follow up gibt es allerdings nicht nur bei den ganz Kleinen, sondern auch
bei den Ein- bis Zweijährigen nach einer (catch up-)Impfdosis einen Abfall der Effektivität von 88% (95% CI 65-96) im ersten Jahr auf 61% (95% CI -327 bis
94) in der Zeit danach.8 Die Rate der Kinder mit als protektiv erachteten Antikörpertitern geht in dieser Altersgruppe innerhalb von sechs Monaten
nach einer Impfdosis ebenfalls deutlich zurück.6
Wie bei der Pneumokkenimpfung besteht auch bei der Massenimmunisierung mit dem Meningokokken-Konjugatimpfstoff die Befürchtung, dass es durch den
Selektionsdruck zu einer Verschiebung der Serogruppen kommen könnte mit Zunahme beispielsweise von Erkrankungen durch B-Meningokokken. Dies ist in
Großbritannien bislang nicht beobachtet worden.12 Ein auf Kapsel-"Switch" zurückgeführter B-Meningokokken-Stamm ist jedoch in Nordspanien
nach Einführung der Massenimpfung bei mehreren Patienten eines Erkrankungsausbruchs entdeckt worden und hat sich in der Folge in Spanien ausgebreitet,
allerdings in geringer Zahl und bei insgesamt stabiler Erkrankungsrate mit B-Meningokokken.12,16,17
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: In klinischen Studien wird häufig über Fieber und Reaktionen an der Injektionsstelle berichtet, bei
Kleinkindern auch über Reizbarkeit, Schläfrigkeit, Schlafstörungen, Weinen und Magen-Darm-Störungen wie Erbrechen. Nach
Spontanmeldungen können als seltene schwerwiegende Effekte unter anderem anaphylaktische Reaktionen, Krampfanfälle einschließlich
Ohnmachtsanfälle sowie Erythema multiforme und STEVENS-JOHNSON-Syndrom auftreten.18-20
ÜBERTRAGBARKEIT AUF DEUTSCHLAND? Invasive Meningokokken-erkrankungen sind im Unterschied zu Pneumokokkeninfektionen im ganzen
Bundesgebiet nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtig. Die Überwachung dürfte somit trotz Untererfassung von geschätzten 20%1
und fehlender Serogruppenbestimmung z.B. 2004 bei 15% der Meldungen3 besser sein als bei den Pneumokokkenerkrankungen. Die positiven
Erfahrungen in Großbritannien oder den Niederlanden mit dem Konjugatimpfstoff lassen sich jedoch nur bedingt auf Deutschland übertragen, weil hier eine
andere Strategie empfohlen wird, für die Erfahrungsberichte unseres Wissens nicht vorliegen. Ähnlich wie in den Niederlanden sollen alle Einjährigen
einmalig geimpft werden, aber anders als dort ohne Catch-up-Kampagne*. Die Catch-up-Kampagne insbesondere bei Jugendlichen, die eine sehr hohe
Trägerrate aufweisen, könnte aber wesentlich zu der erwünschten (und in den Niederlanden beobachteten) Herdenimmunität beitragen, die
nicht geimpfte Kinder und möglicherweise auch Impfversager schützt. Hinzu kommt, dass die Rate an C-Meningokokken-Erkrankungen hierzulande
deutlich geringer ist als in diesen Ländern vor Einführung der Impfung.
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Die STIKO empfiehlt zum Erreichen des individuellen Schutzes Nachholimpfungen jenseits des 2. Lebensjahres, eine entsprechende
Kampagne ist jedoch nicht geplant.
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Die STIKO erhofft sich bei einer Durchimpfungsrate von 80% eine Minderung der Erkrankungen bei den geimpften Jahrgängen um 72%. Von den innerhalb
von drei Jahren bei diesen Kindern zu erwartenden 98 Infektionen würden dann 71 verhindert, darunter auch acht Todesfälle.1 Die Zahl der
Infektionen soll aus der gemittelten Erkrankungsrate der Jahre 2001 bis 2005 abgeleitet sein.21 Eine nachvollziehbare Berechnung dazu fehlt. Der
Prognose liegt eine angenommene Impfstoffeffektivität von mindestens 90% zu Grunde.1 Aus den bisherigen Daten lässt sich u.E. eine drei Jahre
anhaltende Effektivität von über 90% jedoch nicht ableiten.
KOSTEN: 10 Spritzen mit Meningokokken-Konjugatimpfstoff kosten 339,95 € (MENINGITEC), 350,00 € (MENJUGATE) bzw. 355,78 €
(NEISVAC-C). Bei Durchimpfung eines Jahrgangs mit 700.000 Kindern sind für den Impfstoff etwa 24 Mio. € aufzuwenden. Die Impfstoffkosten pro Kind
steigen von bislang etwa 250 € um 14% auf 284 € bis 286 €, wenn man eine vollständige Immunisierung mit Fünffach- (gegen DTP,
HIB-Polio) plus Dreifach- (gegen MMR) Impfstoff und Packungen mit jeweils 10 Spritzen zugrunde legt. Bei erweiterter Immunisierung mit Sechs- und
Vierfachimpfstoffen, die zusätzlich Hepatitis-B- und Varizellen-Komponenten enthalten, steigen die Impfstoffkosten von bisher etwa 422 € um 8% auf 456
€ bis 458 €.
- Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die einmalige Impfung aller einjährigen Kinder gegen invasive Meningokokkenerkrankungen
der Gruppe C.
- Randomisierte kontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten zum Nutzen der gegen C-Meningokokken angebotenen Konjugatimpfstoffe (MENINGITEC,
MENJUGATE, NEISVAC-C) liegen nicht vor. In Immunogenitätsstudien erzielen die Impfstoffe bei einmaliger Impfung einjähriger Kinder als schützend
erachtete Antikörpertiter bei 90% bis 100% der Kinder.
- In mehreren europäischen Ländern wird nach Aufnahme der Impfung in das Standardimpfprogramm für Säuglinge oder Kleinkinder,
verbunden mit einer Impfkampagne für ältere Kinder oder auch Jugendliche, ein deutlicher Rückgang von C-Meningokokkenerkrankungen
beobachtet.
- Die Dauer des Impfschutzes ist unklar.
- Eine zahlenmäßig relevante Serogruppenverschiebung ("Replacement") wird bislang nicht beschrieben.
- Auf Deutschland sind die positiven Erfahrungen der anderen Länder nur bedingt übertragbar: Die Rate der C-Meningokokkenerkrankungen ist
hierzulande deutlich geringer, und zu der empfohlenen Strategie liegen unseres Wissens bislang keine Erfahrungsberichte vor.
- Die allgemeine Impfung von Kleinkindern gegen Meningokokken-C-Erkrankungen mit Konjugatimpfstoffen scheint wirksam zu sein. Wie groß der Effekt in
Deutschland sein wird, lässt sich jedoch nicht sicher vorhersagen. Nach Schätzung der STIKO würden bei einer Durchimpfungsrate von 80% in drei
Jahren bei geimpften Kindern 71 Erkrankungen mit 8 Todesfällen verhindert. Für diesen Nutzen sind dann 58 Mio. € aufzuwenden.
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