BESTÄTIGT: NUTZEN VON ANTIDEPRESSIVA ÜBERSCHÄTZT
"Kaum mehr als Plazebo. Antidepressiva wirkungslos,"1 ist eine Schlagzeile von vielen ähnlichen. Das Medieninteresse an der neuen Metaanalyse2 des Psychologen I. KIRSCH ist groß. Sie bestätigt erneut die geringe Wirksamkeit von Antidepressiva, die zuletzt im Januar auch von einer anderen Arbeitsgruppe herausgestellt wurde (a-t 2008; 39: 22).3 Die mittlere Wirkstärke der vier ausgewerteten Antidepressiva Fluoxetin (FLUCTIN, Generika), Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS, Generika), Venlafaxin (TREVILOR) und Nefazodon (hierzulande nicht mehr im Handel) liegt, gemessen mit der 52 Punkte umfassenden HAMILTON-Skala, demnach nur 1,8 Punkte über den unter Plazebo erzielten Werten. Dieses Ergebnis ist zwar statistisch signifikant, bleibt aber deutlich unter dem Grenzwert für relevante klinische Wirksamkeit*. Nur bei sehr schwer depressiv Erkrankten (mehr als 28 Punkte auf der HAMILTON-Skala) erreicht die Differenz zwischen Scheinmedikament und Antidepressiva klinische Relevanz. Der größere Unterschied beruht nicht darauf, dass Patienten mit schwerer Depression besser auf Antidepressiva ansprechen, sondern auf einem weniger ausgeprägten Plazeboeffekt bei diesen Patienten. Unter Praxisbedingungen wird der Anteil der Patienten mit einer Depression von diesem Schweregrad auf 5% geschätzt.4
Bislang hatten wir einen Nutzen von Antidepressiva auch bei sehr schwer Erkrankten aufgrund der widersprüchlichen Datenlage als nicht hinreichend belegt bewertet. Eine frühere Metaanalyse von 2002,5 die ebenfalls einen Trend zu größerer Wirksamkeit mit zunehmendem Schweregrad der Grunderkrankung erkennen ließ, erschien uns aufgrund methodischer Mängel als nicht hinreichend aussagekräftig. Im Unterschied zur aktuellen Arbeit wurden aus dieser Analyse Negativstudien, in denen sich kein Vorteil des Antidepressivums gegenüber Plazebo ergab, ausgeschlossen (a-t 2006; 37: 1-2). Die Stringenz der aktuellen Metaanalyse ist aber, dass für die vier ausgewerteten Mittel sämtliche Daten einschließlich der negativen aus den bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde eingereichten Zulassungstudien einbezogen wurden. Die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer Citalopram (CIPRAMIL, Generika) und Sertralin (ZOLOFT, Generika), zu denen unveröffentlichte Negativstudien vorliegen, bei denen aber die für eine metaanalytische Auswertung erforderlichen Daten nicht verfügbar sind, wurden daher in der aktuellen Arbeit nicht berücksichtigt, um einen Publikationsbias zu vermeiden.2
Das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) legt in seiner Depressionsleitlinie den Schwerpunkt der Therapie leichter Depressionen auf psychotherapeutische Verfahren. Hinsichtlich Responderauswertun-gen sieht das NICE bei schweren und sehr schweren Depressionen eine Überlegenheit von Antidepressiva gegenüber Plazebo. Es verweist jedoch ebenfalls auf den bekannten Publikationsbias.6 So ist bei psychiatrischen Mitteln nur ungefähr ein Drittel der Studien publiziert und damit zugänglich.7 Zudem beinhalten Responderauswertungen in Antidepressivastudien das Problem, dass die Werte unter Plazebo wie unter Verum oft dicht um den Grenzwert (cut off) herum liegen, sodass hier bereits minimale Effekte für die Einstufung als Responder ausschlaggebend sein können (a-t 2005; 36: 45-7).
"Für mich als Arzt ist die Arbeit von KIRSCH2 ein absolutes Ärgernis... Entscheidend ist doch, dass Antidepressiva von Behörden zugelassen sind, die ihre Wirksamkeit sehr wohl kennen...", kommentiert der als Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) fungierende Münchner Psychiater H.J. MÖLLER.8 Die Zulassungspraxis ist aber hinlänglich bekannt: Um die notwendigen zwei Positivstudien für die US-amerikanische Zulassung eines Antidepressivums zu erreichen, planen Hersteller bis zu acht Studien ein (a-t 2005; 36: 45-7). Die Zulassung von Arzneimitteln beinhaltet zudem nur, dass sie verkehrsfähig sind, nicht aber, dass sie einen patientenrelevanten Nutzen haben.
Meinungsbildner wie MÖLLER** schüren derzeit Ängste, dass demnächst aufgrund sinkender Verordnungen von Antidepressiva die Suizidraten steigen könnten.8,9 Sie verschweigen dabei nicht nur, dass für alle Antidepressiva überzeugende Belege für einen suizidverhütenden Effekt fehlen (a-t 2005; 36: 24-7). Sie ignorieren auch die neuesten epidemiologischen Erkenntnisse zu den Folgen der Warnungen vor Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen. Trotz der im Anschluss an diese Warnungen deutlich rückläufigen Verordnungszahlen ist ein Anstieg der Suizidalität in dieser Patientengruppe nicht zu erkennen (a-t 2008; 39: 3).10,11
Patienten mit Depressionen sollen Antidepressiva nicht plötzlich absetzen, nicht zuletzt wegen der Gefahr von Entzugssymptomen (a-t 2003; 34: 104). Für Betroffene mit sehr schwerer Symptomatik können Antidepressiva nach der jüngsten Auswertung angebracht sein. Für sie wird zusätzlich Psychotherapie empfohlen.6 Insbesondere kognitive Verhaltenstherapie ist auch bei schwerer Symptomatik erprobt. Im direkten Vergleich mit Antidepressiva soll ihr Effekt auf depressive Symptomatik und Remissionswahrscheinlichkeit, offenbar unabhängig von der Schwere der Erkrankung, dem der Antidepressiva entsprechen. Ihre Wirkung hält jedoch länger an, zudem sind Verträglichkeit und Akzeptanz gemessen an den Abbruchraten besser.6
Mit den Patienten sollte offen über die unbefriedigende Datenlage gesprochen werden. Persönliche Präferenzen, Vorerfahrungen und die Verfügbarkeit der Therapien vor Ort sind ebenfalls zu berücksichtigen. Eine pragmatische aus öffentlichen Geldern geförderte Studie zum Nutzen der Antidepressiva ist dringend gefordert.
(M = Metaanalyse) | ||
1 | n-tv vom 26. Febr. 2008 | |
M | 2 | KIRSCH, I. et al.: PLOS Medicine 2008; 5 (2): e45 http://medicine.plosjournals.org/perlserv/?request=get-document&doi=10.1371/journal.pmed.0050045 |
3 | TURNER, E.H. et al.: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 252-60 | |
4 | Scrip 2008; Nr. 3340: 17 | |
M | 5 | KHAN, A. et al.: J. Clin. Psychopharmacol. 2002; 22: 40-5 |
6 | NICE: Guideline No 23 Depression: Management of depression in primary and secondary care; 2004 http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/CG23fullguideline.pdf | |
7 | KENDALL, T., McGOEY, L.: BioSocieties 2007; 2: 129-40 | |
8 | Ärzte Ztg. vom 3. März 2008 | |
9 | HEGERL, U.: Deutschlandradio Kultur vom 28. Febr. 2008 | |
10 | BIDDLE, L. et al.: BMJ 2008; 336: 539-42 | |
11 | WHEELER, B.W. et al.: BMJ 2008; 336: 542-5 | |
12 | GAEBEL, W. et al.: J. Clin. Psychiatry 2007; 68: 1763-74 | |
* | Entsprechend der Einstufung des britischen NICE wird ein Unterschied gegenüber Plazebo von mindestens 3 Punkten auf der HAMILTON-Skala als klinisch bedeutsam angesehen. | |
** | H.J. MÖLLER, aktuelle und frühere Interessenkonflikte: Sprecher/Berater/ Forschungsgelder von AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Eli Lilly, Lundbeck, Merck, Novartis, Pfizer, Sanofi, Servier und Wyeth. 12 |
© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 14. März 2008
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