MELATONIN (CIRCADIN) FÜR ÄLTERE MIT SCHLAFSTÖRUNGEN
Als "neue Morgendämmerung für einen natürlichen Schlaf" bewirbt die Firma Lundbeck das Melatonin-haltige Schlafmittel CIRCADIN in einer dänischen Firmenbroschüre.1 In Deutschland ist es seit April 2008 erhältlich. Melatoninprodukte, die als Nahrungsergänzungsmittel zur Verbesserung des Schlafes oder zur Immunstimulation überwiegend aus dem Ausland angeboten werden, sind nicht generell verkehrsfähig, da das Hormon der Zirbeldrüse hierzulande als zulassungspflichtiges Arzneimittel eingestuft wird.2 Der Antrag auf Zulassung von CIRCADIN war 2000 schon einmal eingereicht worden, wurde aber zwei Jahre später zurückgezogen, da die Wirksamkeit nach Einschätzung der Behörde mit den damals vorgelegten Studien nicht nachgewiesen werden konnte.3,4 CIRCADIN hat eine sehr eingeschränkte Indikation: zur kurzzeitigen Monotherapie der primären, also nicht durch erkennbare medizinische Ursachen hervorgerufenen Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnie) bei Patienten ab 55 Jahren.3 Der häufig als Geheimtipp gehandelte Gebrauch bei zirkadianen Störungen des Schlafrhythmus wie bei Jetlag oder Schichtarbeit wird durch die Zulassung nicht gedeckt. Für den Melatoninagonisten Ramelteon, der in den USA zur Behandlung von Einschlafstörungen zugelassen ist, ist die europäische Zulassung seit einem Jahr beantragt.
EIGENSCHAFTEN: Das Zirbeldrüsenhormon Melatonin spielt eine zentrale Rolle bei der Regulierung des zirkadianen Rhythmus. Synthese und Freisetzung des Neurohormons werden durch Dunkelheit stimuliert und durch Licht gehemmt. Physiologisch sind die Plasmaspiegel nachts zwischen 2 und 4 Uhr am höchsten. Über die Rhythmus-synchronisierenden Effekte hinaus soll Melatonin auch schlaffördernd wirken. Diese mutmaßliche Funktion und der zu Grunde liegende Wirkmechanismus sind aber unzureichend geklärt.3 Die Konzentration des Hormons nimmt im Lauf des Lebens ab. Niedrige Spiegel gehen allerdings nicht automatisch mit Schlafstörungen einher.5 Melatonin beeinflusst auch die Sekretion von luteinisierendem Hormon, Prolaktin, Kortikosteroiden, Schilddrüsenhormonen und Insulin. Das früher aus Leichen gewonnene Neurohormon (a-t 1996; Nr. 1: 15) wird inzwischen synthetisch hergestellt.3 CIRCADIN liegt als retardiertes Präparat vor.
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Von den beiden mit dem aktuellen Zulassungsantrag eingereichten neuen Studien wird eine vorzeitig abgebrochen, unter anderem weil angeblich mindestens jeder dritte Patient keine primäre Insomnie hatte. Wirksamkeitsdaten aus dieser Studie sind unseres Wissens nicht veröffentlicht. An der zweiten Untersuchung nehmen 453 Patienten mit primärer Insomnie ohne wesentliche internistische, neurologische oder psychiatrische Erkrankungen teil. Abends 2 mg retardiertes Melatonin erweisen sich bei dreiwöchiger Einnahme als wirkschwach: Unter Verum sprechen nur 26% an im Vergleich zu 15% unter Scheinmedikament (Number needed to treat [NNT]: 9).3 Als Ansprechen gilt eine jeweils mit visuellen Analogskalen von 100 mm erfasste Verbesserung der Schlafqualität und des Befindens nach dem Aufwachen um mindestens 10 mm. Unklar bleibt aufgrund widersprüchlicher Angaben im Europäischen Beurteilungsbericht (EPAR)3 und in der Publikation der Studie,7 ob die in einer vorgeschalteten Plazebo-Run-in-Phase erfassten Plazeboresponder (99 von 453 Patienten) vor oder erst nach der Randomisierung ausgeschlossen wurden. Das vom Antragsteller in einer weiteren Studie mit ähnlichem Design getestete Zolpidem (STILNOX, Generika) schneidet trotz höherer Plazeboantwort im Vergleich zu Scheinmedikament deutlich besser ab (55% vs. 26%; NNT: 4).3 Anders als bei früheren Zulassungen von Hypnotika scheinen für die Zulassung von Melatonin objektive polysomnographische Daten keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Im EPAR wird nur eine kleine Studie mit 47 Teilnehmern ausgewertet, in der beim primären Endpunkt, der im Schlaflabor erfassten Dauer der Aufwachzeiten nach dem Einschlafen, ein Unterschied zwischen Melatonin und Plazebo ausbleibt.3
Während bisherige Hypnotika möglichst intermittierend und so kurz wie möglich angewendet werden sollen, ist bei Melatonin die kontinuierliche dreiwöchige Einnahme vorgesehen. Weder in der Fachinformation noch in der wissenschaftlichen Diskussion des EPAR finden sich nachvollziehbare Daten zu Nutzen und Sicherheit einer kürzeren oder wiederholten Anwendung. Auch die optimale Dosis von Melatonin bleibt offen: Aus den eingereichten Dosisfindungsstudien lassen sich nach Einschätzung des EPAR keine klaren Schlüsse ziehen.3
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Pharyngitis (5%), Bronchitis (2%), Rückenschmerzen (3%) sowie Arthralgien (1%) sind unter Melatonin häufiger als unter Plazebo. Melatonin besitzt immunogene Eigenschaften und eignet sich daher nicht für Patienten mit Autoimmunerkrankungen. Eine beobachtete Zunahme von Infektionen soll nach der Zulassung weiter überprüft werden.3 Bei den schweren Störwirkungen fallen Bewusstlosigkeit, Stürze, Frakturen sowie kardio- und zerebrovaskuläre Ereignisse auf, die ebenso wie drei kardiopulmonale Todesfälle unter Melatonin (Plazebo: 0) nicht ursächlich mit dem Mittel in Verbindung stehen sollen. Melatoninrezeptoren in zerebralen, koronaren und pulmonalen Arterien sind allerdings nachgewiesen. Aus Tierstudien ergeben sich zudem Risikosignale hinsichtlich Netzhautschäden, Schilddrüsentumoren und Lebertoxizität.3
Abhängigkeit und Entzugssymptome sollen in den Zulassungsstudien nicht beobachtet worden sein. Trotz der Erfahrungen mit anderen Hypnotika ist eine Absetzstudie erst nach der Zulassung geplant.3 Die Langzeitsicherheitsdaten erachten wir als unzureichend: Laut EPAR haben nur 146 Patienten das Mittel ein Jahr oder länger eingenommen.
KOSTEN: Die dreiwöchige Einnahme von abendlich 2 mg Melatonin (CIRCADIN; 20 Retardtabletten zu 25,38 €) kostet 27 €. Für diesen Betrag lassen sich 44 10 mg-Einzeldosierungen des Benzodiazepins Temazepam (PLANUM MITE; 10 mg, 20 Kps. zu 12,21 €) finanzieren.
Melatonin (CIRCADIN) ist ein wirkschwaches Arzneimittel zur Behandlung von über 55-Jährigen mit primären Schlafstörungen (Insomnie).
Optimale Dosierung, Wirksamkeit und Langzeitsicherheit sind unzureichend untersucht.
Die Basis der Zulassung ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir raten von der Einnahme ab.
(R = randomisierte Studie) | ||
1 | Lundbeck "Launch of Circadin"; http://www.lundbeck.com/investor/ Presentations/Teleconference/Teleconference_FY2007_Final.pdf | |
2 | Bundesinstitut für Risikobewertung: Melatonin als Arzneimittel zulassungspflichtig, 11. Juni 1996; zu finden unter: http://www.bfr.bund.de | |
3 | EMEA: Europäischer Beurteilungsbericht (EPAR) CIRCADIN, Stand März 2008; zu finden unter: http://emea.europa.eu/htms/human/epar/c.htm | |
R | 4 | LEMOINE, P. et al.: J. Sleep Res. 2007; 16: 372-80 |
5 | ZHDANOVA, I.V. et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2001; 86: 4727-30 | |
6 | HÄRTTER, S. et al.: Br. J. Clin. Pharmacol. 2003; 56: 679-82 | |
R | 7 | WADE, A.G. et al.: Curr. Med. Res. Opin. 2007; 23: 2597-605 |
© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 18. April 2008
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