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Therapiekritik

SELBSTTESTUNG UND SELBSTMANAGEMENT BEI ORALER ANTIKOAGULATION

Die orale Antikoagulation mit Cumarinen erfordert wegen ihrer engen therapeutischen Breite mit potenziell lebensbedrohlichen Blutungskomplikationen mindestens monatliche INR*-Kontrollen, systematische Dokumentation der Werte und zeitnahe Dosisanpassungen. Bei üblicher Betreuung der Patienten sollen nach systematischen Erhebungen im Mittel 60% bis 65% der INR-Werte im angestrebten Bereich liegen, wobei in spezialisierten Einrichtungen diese Quote fast 10% höher liegen soll als unter üblichen Praxisbedingungen.1

Ziel einer engeren Einbeziehung der Patienten in die Therapieführung ist es, Akzeptanz, Güte und vor allem Effizienz der oralen Antikoagulation zu verbessern. Dies kann in Form einer Gerinnungsselbsttestung oder eines Gerinnungsselbstmanagements erfolgen. Bei der Selbsttestung bestimmt der Patient aus Kapillarblut lediglich die INR-Werte selbst und kontaktiert dann den betreuenden Arzt mit der Frage, ob und wie die Dosierung der Antikoagulanzien anzupassen ist. Beim Selbstmanagement übernehmen die Patienten nach intensiver Schulung und Einweisung auch die Anpassung der Dosierung und die Entscheidung, wann und wie häufig die INR-Werte bestimmt werden.1,2

Eine ältere systematische Übersicht randomisierter Vergleiche findet unter Selbstmanagement gegenüber der üblichen Betreuung antikoagulierter Patienten eine verbesserte Kontrolle der Gerinnungseinstellung, kann aber mangels Daten keine Aussagen zum längerfristigen Einfluss auf Blutungskomplikationen und thromboembolische Ereignisse treffen.3 Ein kürzlich aktualisiertes Cochrane-Review4,5 überblickt 18 randomisierte Studien mit insgesamt 4.723 Patienten und Beobachtungsdauer von zwei Monaten bis mehr als zwei Jahre (im Mittel zwölf Monate). Zwölf Studien prüfen das Selbstmanagement, die übrigen ausschließlich die Selbsttestung. Die Patienten der Kontrollgruppen werden in je acht Studien durch Hausärzte bzw. Klinikambulanzen betreut, in zweien ist beides möglich.5

Die methodische Qualität der Studien wird als mäßig bewertet. Mängel betreffen vor allem die Intention-to-treat-Auswertung und die verblindete Endpunktbewertung. Im Mittel nehmen nur 32% (12% bis 69%) der gescreenten Patienten an den Studien teil. Jeder Vierte (0% bis 57%) bricht die Studien vorzeitig ab. Die INR-Werte liegen bei Selbstkontrolle im Median 10% häufiger im Zielbereich als bei üblicher Betreuung; die Werte werden aber auch zwei. bis fünfmal so oft gemessen.5

Bei gemeinsamer Auswertung reduzieren die beiden Verfahren thromboembolische Ereignisse um 50% (relatives Risiko [RR] 0,50; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,36-0,69; p < 0,0001) und Todesfälle um 36% (RR 0,64; 95% CI 0,46-0,89; p = 0,007). Schwerwiegende Blutungen sind nur numerisch seltener (RR 0,87; 95% KI 0,66-1,16; p  =  0,34). Nach Sensitivitätsanalysen haben Studienqualität, Versorgung der Kontrollgruppe (Hausarzt, Klinikambulanz) und Grunderkrankung (Klappenersatz, Vorhofflimmern, andere Indikation) keinen Einfluss auf die Ergebnisse. Selbstmanagement und Selbsttestung reduzieren thromboembolische Ereignisse (RR 0,47 vs. 0,57; Interaktionstest p = 0,65) und Mortalität (RR 0,55 vs. 0,87; Interaktionstest p = 0,19) in gleicher Weise. Bei schwerwiegenden Blutungen zeigen sich dagegen Unterschiede (Interaktionstest: 0,02): Beim Selbstmanagement treten sie numerisch häufiger auf als unter üblicher Betreuung (RR 1,12; 95% CI 0,78-1,61; p = 0,54), bei der Selbsttestung dagegen signifikant seltener (RR 0,56; 95% CI 0,35-0,91; p = 0,02). Die Autoren halten die Datenlage für beide Verfahren nach Powerkalkulationen für unzureichend und fordern weitere, größere Studien.5

Die Ergebnisse des Reviews stehen denn auch in gewissem Widerspruch zu denen der jetzt publizierten THINRS**-Studie mit 2.922 Patienten, die eine wöchentliche Selbsttestung prüft. Die Patienten der Kontrollgruppe werden in Klinikambulanzen durch speziell geschultes Personal betreut, ihre Versorgung umfasst monatliche INR-Messungen sowie ein standardisiertes Gerinnungsmanagement. Die Patienten mit Selbsttestung werden umfassend angeleitet und müssen nachweisen, dass sie die Messung beherrschen. Zur Dokumentation werden die Werte in elektronische Systeme eingegeben. Liegen sie außerhalb des Zielbereichs, erfolgt die Aufforderung, sich für weitere Instruktionen an das Studienpersonal zu wenden. Ein Viertel der zu 98% männlichen Patienten wird wegen einer mechanischen Herzklappe antikoaguliert, die übrigen primär wegen Vorhofflimmerns bei einem mittleren CHADS2***-Score von 2.6

Der primäre kombinierte Endpunkt aus Todesfällen, Insulten und schwerwiegenden Blutungen wird von einem verblindeten Komitee bewertet. Nach im Mittel drei Jahren ist er unter der Selbstmessung nur numerisch seltener als bei Betreuung in Spezialambulanzen (19% vs. 20%; Hazard Ratio [HR] 0,88, 95% CI 0,75-1,04; p = 0,14). Separat betrachtet bleiben Todesfälle, Insulte und schwerwiegende Blutungen ebenfalls unbeeinflusst. Kleinere Blutungen sind unter der Selbstmessung häufiger (22% vs. 17%; p < 0,01). Geringe Vorteile bietet die Selbstmessung bei der Zeitspanne mit INR-Werten im Zielbereich (66% vs. 62%; p < 0,001) und bei Scores zur Zufriedenheit mit der Antikoagulation (p = 0,002) und zur Lebensqualität (p < 0,001). Subgruppenanalysen nach Alter, Dauer und Indikation der Antikoagulation sowie CHADS2-Score sind unauffällig.6

Die Autoren erklären die im Vergleich zu bisherigen Reviews3,4 diskrepanten Ergebnisse von THINRS zum einen durch ein höheres Cross-over von der Selbsttestung zur Ambulanzbetreuung als umgekehrt (13% vs. <1%), vor allem aber damit, dass die Patienten der Kontrollgruppe systematisch und intensiver als in früheren Studien betreut und geschult wurden und dass auch sie zur Selbsttestung in der Lage sein mussten.6 Systematische Schulungen werden nur in wenigen der in den Reviews erfassten Studien durchgeführt und unterscheiden sich dann zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe.4,7 Das ACCP** hält daher die bisherigen Studien nicht für adäquat konzipiert, um Vorteile beider Verfahren der Gerinnungsselbstkontrolle an sich gegenüber einer üblichen Betreuung belegen zu können, und empfiehlt sie nur sehr zurückhaltend und nur für ausgewählte Patienten.8 Dass Selbsttestung und Selbstmanagement vor allem für langfristig antikoagulierte Patienten infrage kommen, die willens sowie körperlich und kognitiv in der Lage sind, die Verfahren anzuwenden, scheint international konsent. Adäquate, ggf. wiederholte Schulungen sowie die regelmäßige Überprüfung der Eignung der Patienten und der Qualität der Geräte sind Voraussetzung.1,9-11 Die Arbeitsgemeinschaft Selbstkontrolle der Antikoagulation sieht dagegen die Verbesserung von Prognose und Lebensqualität als bewiesen an und hält jeden zweiten Patienten für ein Selbstmanagement für geeignet.2 Dies entspricht nicht der Datenlage, zumal nach einer britischen Erhebung auch außerhalb von Studien nur 26% konsekutiv erfasster Patienten geeignet und gewillt sind, eine Selbsttestung durchzuführen.12

∎  Die Datenlage zum Nutzen einer Gerinnungsselbsttestung und/oder eines Gerinnungsselbstmanagements bei oral antikoagulierten Patienten ist widersprüchlich.

∎  Nach bisherigen, letztlich aber nicht schlüssigen metaanalytischen Daten mindern Selbsttestung und Selbstmanagement gegenüber einer üblichen Betreuung in Praxen oder Klinikambulanzen Mortalität und thromboembolische Ereignisse relevant und in ähnlichem Ausmaß. Blutungen scheinen nur unter der Selbsttestung seltener.

∎  In der aktuellen großen THINRS-Studie sind dagegen unter Selbsttestung Insulte, Blutungen und Sterblichkeit nicht seltener als bei intensivierter Betreuung in spezialisierten Zentren. Patientenzufriedenheit und Lebensqualität sind jedoch geringfügig verbessert.

∎  Etwa jeder dritte bis vierte Patient scheint gewillt und geeignet zu sein, eine Selbsttestung oder ein Selbstmanagement durchzuführen.

∎  Für diese Patienten bieten die Verfahren gute Alternativen zur Betreuung in Spezialambulanzen und haben vermutlich Vorteile gegenüber üblicher Betreuung.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 Drug Ther. Bull. 2009, 47: 98-101
2 BRAUN, S. et al.: Dtsch. Med. Wochenschr. 2009; 134: 695-700
M  3 SIEBENHOFER, A. et al.: Thromb. Haemost. 2004; 91: 225-32
M  4 HENEGHAN, C. et al.: Lancet 2006; 367: 404-11
M  5 GARCIA-ALAMINO, J.M. et al.: Self-monitoring and self-management of oral anticoagulation. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Apr. 2008; Zugriff Febr. 2011
R  6 MATCHAR, D.B. et al.: N. Engl. J. Med. 2010; 363: 1608-20
M  7 WOFFORD, J.L. et al.: BMC Health Services Research 2008; 8: 40-7
8 ANSELL, J. et al.: Chest 2008; 133: 160S-98S
9 OERTEL, L.B., LIBBY, E.N.: J. Thromb. Thrombolysis 2010; 29: 214-8
10 Prescrire Int. 2010; 19: 130-32
M  11 CONNOCK, M. et al.: Health Technol. Assess. 2007; 11: Nr. 38
12 GARDINER, C. et al.: J. Clin. Pathol. 2009; 62: 168-71
* INR = International Normalized Ratio
** ACCP = American College of Chest Physicians
THINRS = The Home INR Study
*** CHADS = Congestive heart failure, Hypertension, Age of 75 years or older, Diabetes mellitus, previous Stroke or transient ischemic attack: Score, mit dem das Schlaganfallrisiko bei Vorhofflimmern geschätzt wird. Für je einen der ersten vier Risikofaktoren wird 1&xnbsp;Punkt vergeben, bei vorausgegangenem ischämischen zerebrovaskulären Ereignis 2&xnbsp;Punkte, bei CHADS2-Score von 0 wird das Schlaganfallrisiko auf 1,9% pro Jahr geschätzt, bei einem Punktwert von 2 auf 4% pro Jahr und beim höchsten Punktwert 6 auf 18,2% pro Jahr (GAGE, B.F. et al.: JAMA 2001; 285: 2864-70)

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 11. Februar 2011

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