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Therapiekritik

ENDOKARDITISPROPHYLAXE: VON DER REGEL ZUR AUSNAHME

In den vergangenen Jahren haben Fachgesellschaften in aller Welt ihre Leitlinien zur Antibiotikaprophylaxe der infektiösen Endokarditis revidiert und die Empfehlungen erheblich eingeschränkt.1-4 Am weitesten geht das britische NICE*, das die Prophylaxe vor zahnärztlichen Behandlungen und anderen gastrointestinalen, urogenitalen oder respiratorischen Eingriffen gar nicht mehr empfiehlt, sofern nicht eine Infektion am Eingriffsort ohnehin eine Antibiotikatherapie erfordert. In diesen Fällen sollen potenzielle Endokarditiserreger mitbehandelt werden.4 Die amerikanische Herzgesellschaft (AHA*) empfiehlt die Prophylaxe nur noch bei Herzerkrankungen mit dem höchsten Sterbe- und Komplikationsrisiko bei Auftreten einer infektiösen Endokarditis und damit im Wesentlichen nur noch bei Patienten, denen prothetisches Material kardial implantiert wurde sowie bei Endokarditis in der Vorgeschichte.1 Auf eine ähnliche Hochrisikogruppe schränken auch die europäische (ESC*) und die deutsche kardiologische Gesellschaft ihre Empfehlungen ein (siehe Kasten).2,3 Auch die Eingriffe, bei denen eine Prophylaxe empfohlen wird, beschränken sich - abgesehen von der Herz- und Gefäßchirurgie mit prothetischem Material selbst und Eingriffen an infiziertem Gewebe - auf bestimmte zahnärztliche und (nur AHA) respiratorische Behandlungen.1-3 Alle Leitlinien betonen die Bedeutung einer guten Mundhygiene für die Minderung des Endokarditisrisikos.1-4

AHA = American Heart Association
   ESC = European Society of Cardiology
   NICE = National Institute for Health and Clinical Excellence

Die vorliegenden Daten sprechen dafür, dass eine Antibiotikaprophylaxe z.B. vor zahnärztlichen Eingriffen selbst bei 100%iger Effektivität nur einen sehr geringen Teil der infektiösen Endokarditiden verhindern würde, da sich die große Mehrheit der Infektionen wahrscheinlich im Zusammenhang mit Bakteriämien entwickelt, die aus alltäglichen Aktivitäten wie Zähneputzen resultieren.1 Hinreichende Belege für einen klinischen Nutzen der Prophylaxe gibt es nicht. Randomisierte kontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten, die wegen der Seltenheit der Erkrankung sehr groß sein müssten, fehlen ganz.5 Beobachtungsstudien wie Fallkontrollstudien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Bakteriämien als Surrogat für eine Endokarditis werden durch Antibiotika vor Eingriffen zwar gemindert, aber nicht eliminiert.4,6 Dem hypothetischen und wenn überhaupt nur sehr geringen Nutzen steht das Risiko seltener lebensbedrohlicher Störwirkungen der Antibiotika gegenüber, insbesondere das der anaphylaktischen Reaktionen auf Penizilline, die zu den Erstwahlmitteln der Prophylaxe gehören. Auch hier sind die Daten mit großen Unsicherheiten behaftet.5 Nach Modellrechnungen, die das NICE aufführt, könnten insbesondere Prophylaxestrategien auf Penizillinbasis mehr Todesfälle provozieren als verhüten.4

Hochrisikopatienten, für die die Endokarditisprophylaxe* in der aktuellen Leitlinie der ESC2 bei bestimmten zahnärztlichen Eingriffen empfohlen wird:

Patienten mit

  1. Klappenersatz oder rekonstruierten Klappen unter Verwendung von prothetischem Material
  2. überstandener infektiöser Endokarditis
  3. angeborenen Herzfehlern:
    1. bei zyanotischen Herzfehlern, die nicht oder mit residualen Defekten oder palliativen Shunts oder Conduits operiert sind
    2. bei vollständig korrigierten Herzfehlern bis zu sechs Monate nach der Operation oder interventionellen Behandlung, wenn prothetisches Material verwendet wurde
    3. bei persistierenden residualen Defekten im Bereich des implantierten prothetischen Materials

*  Als Prophylaxe werden einmalig 2 g Amoxicillin (AMOXYPEN, Generika) p.o. oder Ampicillin (AMPICILLIN RATIOPHARM) i.v. oder - bei Allergie gegen Penizilline - 600 mg Clindamycin (SOBELIN, Generika) p.o. oder i.v. 30 bis 60 Minuten vor dem Eingriff empfohlen. Außerdem soll das Antibiotikaregime bei diesen Patienten bei Eingriffen an infiziertem Gewebe oder zur Prophylaxe einer Wundinfektion oder Sepsis mögliche Endokarditiserreger mit umfassen.

Die Abkehr von der Prophylaxe, die in früheren Leitlinien für die Mehrzahl der Patienten mit angeborenen Herzfehlern und Klappenerkrankungen empfohlen wurde, hat nach einer aktuell publizierten England-weiten Vorher-Nachher-Studie keinen wesentlichen Einfluss auf die Häufigkeit der infektiösen Endokarditis. Die Verordnung von Einzeldosierungen zu 3 g Amoxicillin (AMOXYPEN, Generika) oder 600 mg Clindamycin (SOBELIN, Generika) ist in England nach Einführung der NICE-Leitlinie im März 2008 relativ rasch um knapp 80% von zuvor durchschnittlich mehr als 10.000 auf 2.300 Verordnungen pro Monat zurückgegangen. Während der gesamten Studiendauer, die den Zeitraum von Januar 2000 bis April 2010 umfasst, zeigt sich ein Trend zu einer geringfügigen Zunahme der jährlichen Endokarditisraten, die mit Hilfe von Krankenhausentlassungsdaten erfasst werden. Eine signifikante Änderung dieses Trends lässt sich nicht feststellen: Vor Einführung der NICE-Leitlinie nehmen die Raten pro Jahr um 3,8%, danach pro Jahr um 2,7% zu.7

Die Ergebnisse, die aus methodischen Gründen sicher mit Vorsicht zu interpretieren sind, stützen die Abkehr von der breiten antibiotischen Endokarditisprophylaxe. Die Autoren wollen allerdings nicht ausschließen, dass bestimmte Hochrisikopatienten nicht doch profitieren könnten, zumal diese die Zielgruppe für die trotz NICE-Leitlinie verbliebenen 20% der prophylaktischen Antibiotikaverordnungen gewesen sein könnten.7

∎  Für die bis vor kurzem empfohlene breite antibiotische Endokarditisprophylaxe bei Patienten mit Herzfehlern oder Klappenerkrankungen fehlt eine hinreichende Evidenzbasis. Neuere nationale und internationale Leitlinien haben dem durch Einschränkung der Empfehlung nur noch für Hochrisikopatienten oder - wie das britische NICE* - durch weitgehende Aufhebung der Prophylaxe Rechnung getragen.

∎  Nach einer ersten großen Beobachtungsstudie lässt sich trotz Rückgang der Prophylaxe um rund 80% infolge der neuen NICE-Leitlinie in England kein wesentlicher Einfluss auf die Endokarditishäufigkeit erkennen.

∎  Obwohl die Datenlage auch für Hochrisikopatienten wie solche mit künstlichen Herzklappen nicht besser ist, scheint uns die Prophylaxe, wie sie für diese Patienten in hiesigen Leitlinien empfohlen wird, wegen ihrer großen Gefährdung durch die Infektion nach wie vor vertretbar zu sein. Die Patienten sollten aber über den Stand der Kenntnis und auch des Nichtwissens gut aufgeklärt werden.

  (R = randomisierte Studie)
1 WILSON, W. et al.: Circulation 2007; 116: 1736-54
2 HABIB, G. et al.: Eur. Heart J. 2009; 30: 2369-413
3 AL-NAWAS, B. et al.: Kardiologe 2010; 4: 285-94
4 NICE: Prophylaxis against infective endocarditis, März 2008http://www.nice.org.uk/nicemedia/live/11938/40039/40039.pdf
5 OLIVER, R. et al.: Antibiotics for the prophylaxis of bacterial endocarditis in dentistry. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Juli 2008; Zugriff Mai 2011
R  6 LOCKHART, P.B. et al.: Circulation 2008; 117: 3118-25
7 THORNHILL, M.H. et al.: BMJ 2011; 342: d2392, 7 Seiten

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 3. Juni 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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