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Therapiekritik

ASS ZUR SEKUNDÄRPROPHYLAXE NACH VENÖSER THROMBOEMBOLIE?

Cumarinantikoagulanzien wie Phenprocoumon (MARCUMAR, Generika) mindern das hohe Rezidivrisiko nach erster idiopathischer* proximaler tiefer Venenthrombose oder Lungenembolie sehr wirksam. Nach Absetzen einer zeitlich befristeten, selbst mehrmonatigen Einnahme steigt das Risiko jedoch wieder an und beträgt im ersten Jahr etwa 10%, in fünf Jahren etwa 30%. Die längerfristige Antikoagulation mit Ziel-INR zwischen 2 und 3 reduziert die Rückfallrate nach venöser Thromboembolie im Vergleich zu einer drei- bis sechsmonatigen Einnahme relativ um etwa 90% (relatives Risiko [RR] 0,12; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,09-0,38), steigert aber das Risiko schwerer Blutungen auf das Zweieinhalbfache (RR 2,63; 95% CI 1,02-6,76). Hochgerechnet verhindert die Antikoagulation in fünf Jahren pro 100 Patienten etwa 26 venöse Thromboembolien, von denen etwa eine tödlich verlaufen würde, und führt je nach Ausgangsrisiko (gering, mäßig, hoch) zu 2 bis 10 schweren Blutungen, die zu etwa 10% tödlich sind.1 In Leitlinien wird nach erster idiopathischer proximaler Thromboembolie eine mindestens drei- bis sechsmonatige Antikoagulation empfohlen.1-3 Patienten mit geringem3 bzw. mit geringem bis mäßigem1 Blutungsrisiko wird dabei eine dauerhafte Antikoagulation nahe gelegt. Die Patienten sollen in die Entscheidung einbezogen werden und ein gutes Monitoring gewährleistet sein.1,3

Auch dem Thrombozytenaggregationshemmer Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) wird ein gewisser Nutzen im venösen Schenkel zugeschrieben. Nach der vor gut zehn Jahren publizierten PEP**-Studie mindern täglich 160 mg ASS postoperative Thromboembolien relativ um etwa 30%.4 Die Studie bestätigt damit die lange kontrovers diskutierten Ergebnisse einer früheren Metaanalyse (a-t 1994; Nr. 2: 18),5 ist aber selber aufgrund methodischer Mängel nicht unumstritten (a-t 2000; 31: 41-2).

In zwei randomisierten kontrollierten Studien (WARFASA**, ASPIRE**) wird jetzt der präventive Nutzen von Low-dose-ASS (100 mg/Tag) bei Patienten mit erster idiopathischer proximaler Venenthrombose oder Lungenembolie geprüft, die die orale Antikoagulation – überwiegend nach sechs bis zwölf Monaten – abgesetzt haben. Ein- und Ausschlusskriterien der beiden Studien sind ähnlich. Beide schließen Patienten mit hohem Blutungsrisiko aus.6,7

Die im Mai dieses Jahres publizierte WARFASA-Studie, an der 402 Patienten teilnehmen, findet bei medianer Nachbeobachtung von 25 Monaten eine signifikante Minderung erneuter Thromboembolien unter ASS relativ um etwa 40% (von jährlich 11,2% unter Plazebo auf 6,6% pro Jahr; Hazard Ratio [HR] 0,58; 95% CI 0,36-0,93). Schwere Blutungen unterscheiden sich nicht (jeweils ein Patient in jeder Gruppe).6 Nach Publikation der WARFASA-Studie wird die Nachbeobachtung in der größeren ASPIRE-Studie, die 822 Patienten einschließt, vorzeitig gestoppt. Die Ergebnisse dieser Studie liegen seit November 2012 vor. Im medianen Verlauf von 37 Monaten hat ASS keinen signifikanten Einfluss auf die Thromboembolierate (pro Jahr 4,8% versus 6,5%; HR 0,74; 95% CI 0,52-1,05; p = 0,09). Schwere Blutungen sind unter ASS numerisch häufiger (1,9% vs. 1,5%). Die Autoren präsentieren in der Publikation eine gepoolte Analyse von WARFASA und ASPIRE. Danach wäre das relative Rezidivrisiko unter ASS signifikant um etwa 30% gemindert (HR 0,68; 95% CI 0,51-0,90).7

Bei näherer Betrachtung sind die Daten leider wenig befriedigend: Für beide Studien waren ursprünglich deutlich höhere Teilnehmerzahlen vorgesehen. An der WARFASA-Studie sollten 1.200 Patienten teilnehmen und der primäre Endpunkt war ursprünglich eine Kombination aus venösen Thromboembolien und kardiovaskulären Ereignissen (Herzinfarkt, Schlaganfall und plötzlicher Tod). Nach Ablauf von etwa dreiviertel der Studienzeit wird das Design geändert: Der primäre Endpunkt wird auf venöse Thromboembolien beschränkt, und die Studie kann nach Erreichen von 70 Ereignissen beendet werden. Arterielle Ereignisse, zu der in der Publikation jetzt auch instabile Angina, transitorische ischämische Attacke und akute periphere arterielle Verschlusskrankheit gezählt werden, kommen unter ASS numerisch häufiger vor. Angaben zum ursprünglichen primären Endpunkt fehlen. Die Kombination aus venösen und arteriellen Thromboembolien wird aber unter ASS nicht signifikant beeinflusst (HR 0,67; 95% CI 0,43-1,03). Bei diesem Studienverlauf wäre für einen zweifelsfreien Nutzenbeleg im Grunde eine Bestätigung der Ergebnisse durch eine zweite Studie erforderlich, die es mit der ASPIRE-Studie aber nicht gibt. Auch ASPIRE hat die ursprünglich geplante Teilnehmerzahl von 3.000 Patienten wegen schleppender Rekrutierung nicht erreicht und ist unterpowert.

Derzeit lässt sich nur aufgrund der Gesamtschau der Daten sagen, dass ASS wahrscheinlich einen Nutzen in der Prävention venöser Thromboembolien hat, der mit einer relativen Risikoreduktion von etwa 30% allerdings deutlich geringer ist als der oraler Antikoagulanzien. Das Blutungsrisiko dürfte zwar ebenfalls geringer sein. Die Nutzen-Schaden-Bilanz bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko, der Gruppe, für die eine therapeutische Alternative am dringendsten benötigt wird, bleibt aber offen. Patienten mit erster idiopathischer proximaler tiefer Venenthrombose oder Lungenembolie, bei denen eine Umstellung von der Antikoagulation auf ASS in Betracht gezogen wird, müssen über die Datenlage gründlich aufgeklärt werden, zumal ASS in der geprüften Stärke in dieser Indikation nicht zugelassen ist.

∎  Orale Antikoagulanzien mindern Rezidive nach erster idiopathischer proximaler tiefer Venenthrombose oder Lungenembolie für die Dauer der Einnahme zuverlässig um etwa 90%, steigern aber das Risiko schwerer Blutungen auf etwa das Zweieinhalbfache. Patienten mit geringem bis mäßigem Blutungsrisiko wird die dauerhafte Einnahme empfohlen, wenn ein gutes Monitoring gewährleistet ist.

∎  Nach einer gepoolten Analyse von zwei aktuellen Studien mindert Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika; 100 mg/Tag) das relative Rezidivrisiko nach Absetzen der Antikoagulation bei diesen Patienten um etwa 30%.

∎  Der Effekt von Low-dose-ASS ist im indirekten Vergleich deutlich geringer als der von Antikoagulanzien. Das Blutungsrisiko dürfte zwar ebenfalls geringer sein. Aufgrund von Studienmängeln sind die Ergebnisse jedoch nur als Hinweis, aber nicht als Beleg für einen Nutzen zu werten. Die Nutzen-Schaden-Bilanz für die Gruppe, für die eine therapeutische Alternative am dringendsten wäre – Patienten mit hohem Blutungsrisiko –, bleibt zudem offen.

∎  Patienten, bei denen eine Umstellung von der Antikoagulation auf Low-dose-ASS in Betracht gezogen wird, müssen über die Datenlage zu diesem Off-label-Gebrauch gut aufgeklärt werden.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 KEARON, C. et al.: Chest 2012; 141 (Suppl.): e419S-94S
2 JAFF, M.R. et al.: Circulation 2011; 123: 1788-830
3 Deutsche Gesellschaft für Angiologie: Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und der Lungenembolie, Juni 2010; http://www.awmf.org/uploa ds/tx_szleitlinien/065-002_S2_Diagnostik_und_Therapie_der_Venenthrom bose_und_der_Lungenembolie_06-2010_06-2015.pdf
R  4 PEP Trial Collaborative Group: Lancet 2000; 355: 1295-302
M  5 Antiplatelet Trialist’s Collaboration: BMJ 1994; 308: 235-46
R  6 BECATTINI, C. et al.: N. Engl. J. Med. 2012; 366: 1959-67
R  7 BRIGHTON, T.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2012; 367: 1979-87

* nicht durch einen passageren Risikofaktor wie Operation ausgelöst
** ASPIRE = Aspirin to Prevent Recurrent Venous Thromboembolism
PEP = Pulmonary Embolism Prevention
WARFASA = Warfarin and Aspirin

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 7. Dezember 2012

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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