logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2013; 44: 36-7nächster Artikel
Korrespondenz

BUKKALES MIDAZOLAM (BUCCOLAM)
… bei Krampfanfällen von Kindern und Jugendlichen

Welche Bewertung geben Sie dem Medikament BUCCOLAM?

Dr. med. H. JONIGKEIT (Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde)
D-31832 Springe
Interessenkonflikt: keiner

Generalisierte tonisch-klonische Krampfanfälle (Grand mal) sistieren meist spontan innerhalb von fünf Minuten. Dauern sie länger als fünf bis zehn Minuten, haben sie ein hohes Risiko, wenigstens 30 Minuten anzuhalten und damit in einen Status epilepticus* überzugehen. Frühzeitige Behandlung soll dies verhindern und Morbidität und Mortalität senken.1,2 Seit Jahren ist mit Diazepam-Rektallösung (DIAZEPAM DESITIN RECTAL, STESOLID RECTAL) ein auch durch Laien anwendbares Fertigarzneimittel zur raschen Unterbrechung verfügbar.3 Seit 2011 steht mit BUCCOLAM auch eine Midazolam-Lösung zur Behandlung länger anhaltender akuter Krampfanfälle von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung, die in den Zwischenraum zwischen Zahnfleisch und Wange eingebracht wird. Ab einem Alter von sechs Monaten darf das Benzodiazepin bei bekannter Epilepsie auch durch Betreuungspersonen verabreicht werden.4

In fünf in Notaufnahmen und einem Sonderschulheim durchgeführten Studien5-9 wird bukkales Midazolam mit rektalem Diazepam verglichen. Einbezogen sind 666 Kinder und Jugendliche im Alter von 2 Monaten bis 19 Jahren mit insgesamt 769 Episoden meist generalisierter Anfälle. Als Grunderkrankung haben sie neben Epilepsie oder Fieberkrämpfen auch schwere Malaria, Meningitis u.a. Innerhalb von zehn Minuten nach bukkalem Gebrauch der Midazolam-Lösung sistieren in den Studien 65% bis 100% der Krampfanfälle (alle sichtbaren Zeichen), nach rektalem Diazepam 41% bis 100%. Eine der Studien6 errechnet in diesem Endpunkt einen signifikanten Vorteil für Midazolam. Erneute Krampfanfälle innerhalb von 24 Stunden treten in der einzigen Untersuchung, die dies prüft, 5 unter beiden Mitteln ähnlich häufig auf (39% versus 46%).

Die Studien haben mehrere methodische Mängel: Sie sind unter anderem weder doppelblind noch plazebokontrolliert, was angesichts ethischer Bedenken nachvollziehbar ist, die Ergebnisse aber möglicherweise verzerrt bzw. die Bewertung erschwert. Auf einen Nachweis der Nichtunterlegenheit sind die Studien nicht ausgelegt. In zweien6,8 erfolgt die Gruppenzuteilung nicht randomisiert, sondern abhängig von der Woche oder vom Tag im Monat, und teilweise wurde Diazepam unterdosiert,** sodass die Wirksamkeit von Midazolam möglicherweise überschätzt wird. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA, die im Rahmen der Zulassung vier der Studien5-8 betrachtet hat, sieht keinen Beleg für Überlegenheit von Midazolam gegenüber Diazepam, hält Nichtunterlegenheit aber für ausreichend plausibel.10 Ob Midazolam die Entwicklung eines Status epilepticus verringert oder Folgeschäden verhindert, wurde nicht untersucht. Angaben zur Mortalität finden sich einzig in einer afrikanischen Studie mit Kindern, die überwiegend an schwerer Malaria erkrankt sind und deren Ergebnisse daher nur eingeschränkt übertragbar sind. Dort sterben 5% vs. 7%, wobei Infektionen und Mangelernährung als Ursachen genannt werden.5 Auch für rektales Diazepam fehlen in der Behandlung länger anhaltender Krampfanfälle oder des Status epilepticus bei Kindern Nutzenbelege aus randomisierten plazebokontrollierten Studien.

Zu den unerwünschten Wirkungen liegen nur begrenzt Daten vor. Wie und wie vollständig Störwirkungen erfasst wurden, ist unklar. Atemdepression als bedeutendste unerwünschte Wirkung ist häufig. In einer der in Notaufnahmen durchgeführten Studien werden zwei Kinder nach Midazolam intubiert (2%) vs. drei (3%) in der Diazepam-Gruppe.6 Einige Studienteilnehmer hatten jedoch bereits außerhalb des Krankenhauses Diazepam rektal erhalten. Ob die fünf betroffenen Kinder dazugehören, ist unklar. Die EMA schätzt das Risiko für Atemdepression unter beiden Benzodiazepin-Zubereitungen als vergleichbar ein.10 Wegen der Gefahr einer verzögerten Atemdepression aufgrund langsamerer Metabolisierung und Elimination dürfen beide Benzodiazepine bei Säuglingen unter sechs Monate nur in einer Klinik mit Überwachungsmöglichkeiten und entsprechender Reanimationsausrüstung angewendet werden.3,4 Für die Behandlung von Kindern unter drei Monaten ist die Midazolam-Lösung nicht zugelassen.4

Wegen erhöhter Spitzenspiegel darf Midazolam – anders als Diazepam3 – bei Nichtansprechen ohne vorherigen ärztlichen Rat kein zweites Mal gegeben werden.4 Bei Jugendlichen über 12 Jahre mit mehr als 40 kg Körpergewicht ist die vorgesehene Dosierung von 10 mg Midazolam möglicherweise zu niedrig.10 Bei Kombination mit einem CYP 3A4-Inhibitor wie Itraconazol (SEMPERA, Generika) wird wegen verlängerter Wirkdauer eine sorgfältige Überwachung empfohlen.4 Für beide Benzodiazepine besteht ein Risiko der Übertherapie z.B. durch Fehlbehandlung selbstlimitierender partieller Anfälle.10

Ein Vorteil von Midazolam ist die einfachere Anwendung. In einer aktuellen kanadischen und einer britischen Leitlinie werden rektales Diazepam und bukkales Midazolam in der Behandlung von Krampfanfällen*** bei Kindern außerhalb des Krankenhauses, die länger als fünf Minuten anhalten, als Alternativen genannt2 oder Midazolam sogar bevorzugt.11

BUCCOLAM kostet pro Anwendung 29 € (4 Fertigspritzen zur bukkalen Anwendung mit 2,5 mg, 5 mg, 7,5 mg oder 10 mg: jeweils 114,16 €) und damit das Siebenfache von STESOLID RECTAL (4 € pro Anwendung, 5 Klistiere zu 5 mg bzw. 10 mg: 18,50 € bzw. 20,42 €).

∎  Mit BUCCOLAM ist seit 2011 eine bukkal zu applizierende Midazolam-Lösung zur Behandlung länger anhaltender akuter Krampfanfälle von Kindern und Jugendlichen im Handel. Ab einem Alter von sechs Monaten darf es bei bekannter Epilepsie auch durch Betreuungspersonen verabreicht werden.

∎  Im Vergleich mit Diazepam-Rektallösung (DIAZEPAM DESITIN RECTAL, STESOLID RECTAL), dem langjährigen Standard, scheint es nach fünf Studien mäßiger Qualität länger anhaltende Krampfanfälle vergleichbar effektiv zu unterbrechen.

∎  Zur Sicherheit der Midazolam-Lösung liegen nur begrenzte Daten vor. Atemdepression scheint aber nicht häufiger aufzutreten als nach rektalem Diazepam.

∎  Für rektales Diazepam gibt es langjährige Erfahrungen. Für bukkales Midazolam spricht jedoch, dass es einfacher anzuwenden ist. In Leitlinien wird es zur Therapie*** außerhalb der Klinik alternativ empfohlen oder bevorzugt.

  (R =randomisierte Studie)
1 The Status Epilepticus Working Party: Arch. Dis. Child. 2000; 83: 415-9
2 FRIEDMAN, J.N.: Paediatr. Child Health 2011; 16: 91-7
3 Desitin: Fachinformation DIAZEPAM DESITIN RECTAL TUBE, Stand Aug. 2008
4 ViroPharma: Fachinformation BUCCOLAM, Stand Nov. 2012
5 MPIMBAZA, A. et al.: Pediatrics 2008; 121: e58-64
6 McINTYRE, J. et al.: Lancet 2005; 366: 205-10
7 SCOTT, R.C. et al.: Lancet 1999; 353: 623-6
8 BAYSUN, S. et al.: Clin. Pediatr. (Phila) 2005; 44: 771-6
9 ASHRAFI, M.R. et al.: Eur. J. Paediatr. Neurol. 2010; 14: 434-8
10 EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) BUCCOLAM, Stand Sept. 2011 http://www.emea.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/002267/WC500112312.pdf
11 NICE: Pharmacological update of clinical guideline 20 – The Epilepsies, Stand Jan. 2012 http://www.nice.org.uk/nicemedia/live/13635/57784/57784.pdf

* Dauer über 30 Minuten oder wiederholtes Auftreten von epileptischen Anfällen ohne zwischenzeitliches vollständiges Wiedererlangen des Bewusstseins. Länger als 5 Minuten anhaltender Anfall wird zum Teil als früher oder drohender Status epilepticus bezeichnet.2
** In den meisten Studien5,6,9 werden beide Benzodiazepine altersabhängig dosiert (unter 1 Jahr 2,5 mg, 1 Jahr bis unter 5 Jahre: 5 mg, 5 Jahre bis unter 10 Jahre: 7,5 mg, ab 10 Jahre: 10 mg). Dies entspricht der Zulassung der Midazolam-Lösung.4 Für Diazepam ist gemäß Fachinformation jedoch bereits bei Kindern über 3 Jahren (15 kg Körpergewicht) eine Dosierung von 10 mg vorgesehen.3
*** bezogen auf generalisierte tonisch-klonische Krampfanfälle; Ergänzung nach Drucklegung

© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 19. April 2013

Autor: angegebene Leser bzw. Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 2013; 44: 36-7nächster Artikel