IMPFUNG GEGEN ROTAVIREN FÜR ALLE SÄUGLINGE?
Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat die allgemeine Rotavirus-Schluckimpfung (ROTARIX, ROTATEQ) für Säuglinge in den Impfkalender aufgenommen.1 Ihr primäres Ziel ist, schwere Rotavirus-Infektionen und insbesondere die dadurch erforderlichen Krankenhausbehandlungen bei Säuglingen und Kleinkindern zu reduzieren.2
Rotaviren sind die häufigste Ursache von Magen-Darm-Infektionen bei Kindern unter fünf Jahren. Besonders betroffen sind Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Bis zum dritten Lebensjahr haben sich mehr als 90% infiziert.2 Seit 2001 besteht in Deutschland Meldepflicht. Zwischen 2001 und 2008 wurden hierzulande pro Jahr durchschnittlich 17.600 Kinder unter fünf Jahren mit einer Rotavirus-Gastroenteritis im Krankenhaus behandelt, von denen 9% die Erkrankung erst dort erworben haben (nosokomiale Infektion). Die Aufenthaltsdauer lag im Median bei zwei (Zwei- bis Vierjährige) bzw. drei Tagen (unter Zweijährige). Todesfälle sind in Deutschland äußerst selten: Zwischen 2004 und 2008 sind insgesamt acht Kinder unter fünf Jahren erfasst, die im Zusammenhang mit einer Rotavirus-Infektion verstorben sind.3
Dass die Effektivität der beiden Lebendimpfstoffe gut belegt ist, ist unbestritten (a-t 2008; 39: 111-14). Nach einer im Rahmen der Entscheidungsfindung der STIKO durchgeführten Metaanalyse von fünf randomisierten plazebokontrollierten Studien werden innerhalb der ersten zwei Jahre nach Immunisierung schwere Rotavirus-Gastroenteritiden um 91% vermindert (Relative Risikoreduktion [RRR] 91%; 95% Konfidenzintervall [CI] 82-95) und deswegen erforderliche Hospitalisierungen um 92% (RRR 92%; 95% CI 82-96).4
Dennoch ist die Rotavirusimpfung nicht unproblematisch:
Rotavirus-Impfstoffe sind mit einem erhöhten Risiko für Darminvaginationen verbunden. Eine Vorläufer-Vakzine (früher: ROTASHIELD) musste wegen des erhöhten Risikos für dieses seltene lebensbedrohliche Ereignis, bei dem sich ein Darmabschnitt in einen anderen stülpt, 1999 weniger als ein Jahr nach Markteinführung in den USA wieder zurückgezogen werden. Für ROTARIX und ROTATEQ geht die STIKO nach Daten aus Postmarketingstudien von 1-2 zusätzlichen Invaginationen/100.000 Impflinge innerhalb von sieben Tagen nach Verabreichung der ersten Dosis aus. Unter ROTASHIELD wurde die Gefährdung auf 10-20/100.000 Impflinge geschätzt.2 Möglicherweise ist das Risiko aber auch unter den beiden neueren Impfstoffen höher als bislang angenommen: Wie die australische Gesundheitsbehörde aktuell mitteilt, ergibt eine dreijährige Untersuchung dort für beide Vakzinen ein signifikant erhöhtes Risiko einer Invagination vor allem nach der ersten, in geringerem Ausmaß aber auch nach der zweiten Dosis. Daraus sollen schätzungsweise 6 zusätzliche Invaginationen/100.000 Impflinge resultieren.5
Da das Risiko einer Invagination bei ROTASHIELD mit zunehmendem Alter angestiegen sein soll und laut STIKO auch bei ROTARIX und ROTATEQ Säuglinge, die zum Zeitpunkt der ersten Impfung älter als drei Monate waren, ein höheres Risiko hatten als jüngere,2 empfiehlt die Kommission "dringend",1,2 die Impfserie spätestens bis zum Alter von zwölf Wochen zu beginnen und "vorzugsweise" bis zum Alter von 16 Wochen (ROTARIX) bzw. 22 Wochen (ROTATEQ) abzuschließen, "auf jeden Fall" aber bis zum Alter von 24 Wochen (ROTARIX) bzw. 32 Wochen (ROTATEQ).1 In der ROTARIX-Fachinformation6 fehlt allerdings ein Hinweis auf das enge Zeitfenster, das bei der ersten Dosis einzuhalten ist.
Die STIKO empfiehlt, "kurz vor und kurz nach der Schluckimpfung nicht zu stillen oder eventuell auf die Gabe anderer Flüssigkeiten auszuweichen".2* Hintergrund ist eine Untersuchung von Impfdurchbrüchen in Mecklenburg-Vorpommern,7 wo die Immunisierung bereits seit 2009 von der zuständigen Gesundheitsbehörde offiziell empfohlen wird und wo eine unerwartet hohe Zahl an Rotaviruserkrankungen bei vollständig geimpften Säuglingen aufgefallen ist. Dabei wird als Risikofaktor neben der Betreuung in einer Kindertagesstätte (Odds Ratio [OR] 3,42; 95% CI 1,64-7,12) ausschließliches Stillen zum Zeitpunkt der Impfung (OR 3,99; 95% CI 1,92-8,27) identifiziert. Möglicherweise neutralisieren Antikörper in der Muttermilch die Viruspartikel im Impfstoff. Ein kritisches Zeitfenster ist derzeit jedoch nicht bekannt.7
Wie bei anderen Erregern, von denen verschiedene Serotypen existieren, besteht auch bei Rotaviren grundsätzlich das Problem, dass die natürliche Variabilität, aber auch eine mögliche Verdrängung derzeit vorherrschender Serotypen durch die Impfung (Replacement) den Nutzen künftig beeinträchtigen könnten. Aus verschiedenen Ländern wird eine Zunahme von Serotypen berichtet, die nicht in den jeweiligen Impfstoffen enthalten sind. Für eine zuverlässige Beurteilung reicht der Beobachtungszeitraum aber derzeit nicht aus.4
Die Rotavirusimpfung ist weit davon entfernt, kosteneffektiv zu sein. Nach einer gesundheitsökonomischen Analyse verbleiben trotz Kosteneinsparungen durch vermiedene Erkrankungen und Klinikaufenthalte für einen geimpften Jahrgang Mehrkosten von ca. 45 bis 48 Mio. €.8 Erst wenn die Impfstoffpreise um rund zwei Drittel gesenkt würden, ließen sich demnach Einsparungen erzielen.2
Die STIKO begründet die neue Empfehlung mit dem öffentlichen Interesse an der Impfung aufgrund der erwarteten Senkung der Krankheitslast. Eine sinnvolle Verwendung der begrenzten Ressourcen ist aber ebenfalls von öffentlichem Interesse. Durchfallerkrankungen verlaufen hierzulande nur ausnahmsweise tödlich und hinterlassen in der Regel auch keine Folgeschäden. Trotz der beim derzeitigen Kenntnisstand insgesamt positiven Nutzen-Schaden-Bilanz halten wir eine routinemäßige Rotavirusimpfung angesichts der immensen Mehrkosten nicht für angebracht, -Red.
1 | STIKO: Epid. Bull. 2013; Nr. 34: 315-8 |
2 | STIKO: Epid. Bull. 2013; Nr. 35: 345-61 |
3 | KOCH. J., WIESE-POSSELT, M.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2011; 30: 112-7 |
4 | KOCH, J. et al.: Bundesgesundheitsbl. 2013; 56: 957-84 |
5 | Therapeutic Goods Administration: Mitteilung vom 28. Aug. 2013 http://www.tga.gov.au/safety/alerts-medicine-rotavirus-130828.htm |
6 | GSK: Fachinformation ROTARIX, Stand Nov. 2012 |
7 | ADLHOCH, C. et al.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2013; 32: e82-9 |
8 | CAREM GmbH, RKI: Gesundheitsökonomische Evaluation der Rotavirus-Impfung in Deutschland, März 2013 http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Forschungsprojekte/ Rotavirus-Impfung/Abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile |
9 | STIKO/RKI: Schreiben vom 6. Sept. 2013 |
* | Hervorhebung durch die Redaktion, auf Nachfrage teilt die STIKO mit, derzeit an einer "Richtigstellung" dieser unpräzisen Formulierung zu arbeiten.9 |
© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 13. September 2013
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