ÖSTROGEN-EXTERNA BEI LABIENSYNECHIE IM KINDESALTER?
Bei einem gerade 1 Jahr alten Mädchen wurde vom Kinderarzt eine „Verklebung” der Schamlippen festgestellt und eine Therapie mit Östrogensalbe und mechanischer Erweiterung über dem Vaginalbereich verordnet, da das Mädchen sonst später nicht auf normalem Weg Kinder bekommen könnte. Eigentlich bin ich der Meinung, dass in der Pubertät durch hormonelle Veränderungen die entscheidende Bildung der Schamlippen im Genitale erfolgt. (…) Das Thema scheint in der Kinderarztpraxis hoch aktuell und häufig zu sein und wird von Eltern im Internet viel diskutiert. Was ist von einem solchen Eingriff bei einem so kleinen Mädchen zu halten?
Dr. med. U. RÖPKE (Fachärztin für Anästhesiologie und Intensivmedizin)
D-37441 Bad Sachsa
Interessenkonflikt: keiner
Synechien der kleinen Schamlippen sind bei Mädchen vor der Pubertät häufig: In einer Prävalenzstudie werden bei insgesamt 1,8% der bis zu 12 Jahre alten Mädchen Adhäsionen beschrieben, am häufigsten im zweiten Lebensjahr. Keines der betroffenen Kinder ist älter als 4 Jahre.1 In einer anderen Studie haben sogar 21,3% der bis zu 7 Jahre alten Mädchen Synechien.2 Man nimmt an, dass chronische Reizung oder Entzündungen der Vulva (z.B. bei Windeldermatitis) zu Hautabschilferungen an den kleinen Schamlippen führen, die dann im Rahmen der Wundheilung anhaften.3 Die Adhäsionen können die kleinen Labien ganz oder teilweise verschließen.2 Oft bleibt nur eine kleine Öffnung, durch die der Urin ablaufen kann.4 Es wird vermutet, dass auch die niedrigen Östrogenspiegel im Kindesalter Synechien begünstigen.1 Vereinzelt werden sie aber auch nach Beginn der Pubertät beobachtet.4,5 Wir finden allerdings nur einen historischen Bericht, in dem die Adhäsion als Geburtshindernis beschrieben wird.6
Labiensynechien machen oftmals keine Beschwerden.7 Sie können aber Entzündungen des Genitale oder der Harnwege begünstigen. Infolge einer Abflussbehinderung kann sich Urin sammeln und zu unkontrolliertem Urinabgang oder bei vollständigem Verschluss der Labien zu Harnverhalt führen.8
Therapieempfehlungen in Form von Leitlinien finden wir nicht. Nach Ansicht vieler Autoren müssen beschwerdefreie Mädchen nicht behandelt werden.3,4,8-12 da sich innerhalb eines Jahres knapp 80%, mit Beginn der Pubertät praktisch alle Adhäsionen spontan lösen sollen.8 Bei Symptomen wird vielfach in erster Linie die Off-label-Therapie mit Östrogenexterna in Betracht gezogen.3,4,7,12 Die Datenlage dafür ist allerdings dürftig, und randomisierte Studien fehlen. In einer kleinen kontrollierten Studie9 mit insgesamt 30 Mädchen im Alter von 2 Monaten bis 2 Jahren, die alle einen fast vollständigen Verschluss der kleinen Labien, aber nur zum Teil Beschwerden haben, wird nach vier Wochen lokaler Östrogenanwendung bei 88% (22/25) eine Wiedereröffnung erzielt. In der Kontrollgruppe (n = 5), die über den gleichen Zeitraum mit wirkstofffreien Externa behandelt wird, bleiben die Synechien unverändert bestehen.9
In einer retrospektiven Vergleichsstudie10 von Östrogenexterna und lokalem Betamethason, dessen Anwendung bei Kindern unter einem Jahr oder unter Okklusivbedingungen (Windeln) zumindest laut Fachinformation von SODERM13 kontraindiziert und das insgesamt noch schlechter untersucht ist, werden hingegen mit beiden Therapieformen ähnlich unbefriedigende Ergebnisse erzielt: Nur bei jeweils etwa 15% der 4 bis 20 Monate alten Mädchen (n = 103) ist die durchschnittlich vierwöchige Therapie erfolgreich.10 In unkontrollierten, zumeist kleinen Anwendungsbeobachtungen4,5,14 von bis zu drei Monaten Dauer, in denen Mädchen mit und ohne Beschwerden bis zu einem Alter von 14 Jahren mit Östrogenexterna behandelt werden, liegen die Erfolgsraten zwischen 79% und 100%. In einer dieser Untersuchungen werden bei einigen Mädchen die letzten Adhäsionen nach erfolgter Östrogentherapie allerdings manuell getrennt.5 In einer größeren retrospektiven Studie, in der die ein bis sieben Jahre alten Mädchen (n = 262) alle unter Beschwerden leiden und vergleichsweise kurz (10 bis 14 Tage) behandelt werden, führt die Östrogenanwendung nur bei 46% zum Erfolg.12
Bei bis zu 40% der Mädchen werden nach Östrogenanwendung Rezidive beschrieben,4 die nach den Autoren einer Übersicht wie die Erstmanifestation behandelt werden sollen.3 Störwirkungen der Therapie umfassen vor allem Reizungen und Hyperpigmentierung der Vulva, seltener auch Brustwachstum und vaginale Blutung. Die unerwünschten Wirkungen sollen nach Therapieende reversibel sein.4,7,11
Sofern überhaupt beschrieben,9,12,14 werden in den Studien vor allem konjugierte Östrogene verwendet,12,14 die z.B. in den USA als Vaginalcreme (PREMARIN Cream) zur Behandlung von Beschwerden der Menopause erhältlich, als lokale Zubereitung in Deutschland aber nicht auf dem Markt sind.* Inwieweit die Studienergebnisse auf die hierzulande erhältlichen Estradiol- (LINOLADIOL N) bzw. Estriol-haltigen (OVESTIN u.a.) Externa übertragbar sind, ist unklar, da entsprechende Untersuchungen fehlen. Keines der Östrogenexterna ist zur Behandlung von Labiensynechien bei Mädchen zugelassen.
* | In einer älteren Studie9 wurde Dienestrol angewendet, das ebenfalls nicht im Handel erhältlich und aufgrund seiner chemischen Nähe zu dem als kanzerogen und teratogen bekannten Diethylstilbestrol (vgl. a-t 1997; Nr. 2: 22) ohnehin obsolet ist. |
Chirurgische Trennungsverfahren, die manuell oder instrumentell erfolgen können, werden vor allem bei starken Beschwerden, Harnverhalt oder nach Versagen einer konservativen Therapie in Betracht gezogen.3,7 Auch sie können zu Rezidiven führen.4
Labiensynechien sind im Kindesalter häufig, oft asymptomatisch und erfordern dann keine Therapie. Spätestens mit Beginn der Pubertät sollen sich die meisten Adhäsionen von selbst lösen.
Wenn Beschwerden auftreten und ein Off-label-Therapieversuch mit Östrogenexterna erwogen wird, sollten die Eltern über die unzureichende Datenlage, mögliche Störwirkungen und die fehlenden Langzeiterfahrungen aufgeklärt werden.
Chirurgische Therapieverfahren bleiben vor allem Komplikationen wie z.B. Harnverhalt oder anhaltenden Beschwerden nach Versagen einer konservativen Therapie vorbehalten.
1 | LEUNG, A.K. et al.: J. Paediatr. Child Health 1993; 29: 235-6 |
2 | BERENSON, A.B. et al.: Pediatrics 1992; 89: 387-94 |
3 | GARDEN, A.S.: Arch. Dis. Child Educ. Pract. Ed. 2011; 96: 73-8 |
4 | SCHOBER, J. et al.: J. Pediatr. Adolesc. Gynecol. 2006; 19: 337-39 |
5 | CAPRARO, V.J. et al.: Obstet. Gynecol. 1972; 39: 65-9 |
6 | REID, J.: Prov. Med. Surg. J. 1850; 14: 673-7 |
7 | TEBRUEGGE, M.: Arch. Dis. Child 2007; 92: 268-71 |
8 | SCHROEDER, B. in: OMAR, H.A.: J. Pediatr. Adolesc. Gynecol. 2000; 13: 183-5 |
9 | ARIBARG, A.: Br. J. Obstet. Gynaecol. 1975; 82: 424-5 |
10 | EROGLU, E. et al.: J. Pediatr. Adolesc. Gynecol. 2011; 24: 389-91 |
11 | GOLDMAN, R.D.: Can. Fam. Physician 2013; 59: 37-8 |
12 | MURAM, D.: J. Pediatr. Adolesc. Gynecol. 1999; 12: 67-70 |
13 | Dermapharm : Fachinformation SODERM ; Stand Sept. 2011 |
14 | LEUNG, A.K. et al.: Clin. Pediatr. 2005; 44: 245-7 |
© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 14. November 2014
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