Der Kampf des Bürgertums um demokratische Rechte seit Mitte des 18. Jahrhunderts schloss auch Meinungs- und Informationsfreiheit ein. Diese
wurden den Herrschenden, dem Staat, abgetrotzt. Zunehmend werden sie nun durch die neuen Mächtigen, die Warenanbieter und ihre Juristen, bedroht. Per
einstweiliger Verfügung verhindern die Firmen Bionorica, Schwabe und Strathmann (Tabelle) das Erscheinen des Arzneiverordnungs-Report '97 (AVR). Seit
1985 bewertet ein unabhängiges Gremium aus niedergelassenen Ärzten, Klinikern und Pharmakologen die Verordnungen niedergelassener Ärzte zu
Lasten der gesetzlichen Krankenkassen, die vom wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen erfasst werden.
Die jährlich erscheinende Publikation schafft einen Informationsausgleich zwischen Ärzteschaft/Krankenkassen und Medikamentenherstellern. Firmen
beschaffen sich schon seit Jahrzehnten Verordnungsdaten über die IMS GmbH, ohne die Erhebungen Kassen, Aufsichtsbehörden bzw. den Fachkreisen
zugänglich zu machen. Daten und Bewertungen des Reports sind vor allem den Firmen ein Dorn im Auge, deren Produkte hinsichtlich des therapeutischen
Nutzens als zweifelhaft beurteilt werden. Es soll verborgen bleiben, wie viel Geld in "umstrittene" und mutmaßlich therapeutisch nutzlose Arzneimittel
fließt und welche Substitutionsmöglichkeiten vorgeschlagen werden. Die Autoren des AVR dürfen nicht veröffentlichen, dass sich für
umstrittene Arzneimittel im Verordnungswert von sieben Milliarden DM ein Einsparpotential von über vier Milliarden DM ergibt, wenn ein Austausch gegen
wirksame Präparate berücksichtigt wird.
Der Versuch, unabhängige Bewertungen des Nutzens von Arzneimitteln zu verhindern, hat Tradition. 1987 klagte die Firma Schwabe (erfolglos) gegen die in
einem KV-Journal veröffentlichte negative Einschätzung des Ginkgo-biloba-Extraktes TEBONIN/RÖKAN (Umsatz zu Lasten der GKV damals 360
Millionen DM, heute 250 Mio. DM): "Diesen Kosten steht kein Nutzen gegenüber, so dass die Präparate nicht der Forderung der RVO nach einer
wirksamen und wirtschaftlichen Therapie genügen. Für eine Plazebotherapie sind derartige Kosten unerträglich hoch."1
Umsatzeinbrüche für TEBONIN/RÖKAN lastete die Schwabe-Geschäftsführung der mangelnden Aktivität ihrer Rechtsabteilung an.
Nach Auswechseln von drei Juristen wurden Krankenkassen bedroht, als sie Kommentare zu TEBONIN/RÖKAN aus unserem 1989 erschienenen alarm-
telegramm für die Arztberatung verwendeten (a-t 6 [1989], 62).
Jetzt gelingt die Informationsunterdrückung durch einen Trick. Nach Meinung der Gerichte verschaffen sich die Kassen gegenüber den Herstellern einen
nicht zulässigen Wettbewerbsvorteil, wenn sie ihre Verordnungsdaten Wissenschaftlern zur Verfügung stellen und wissenschaftlich auswerten lassen.
Dies erscheint abstrus. Warenanbieter verschaffen sich laufend dadurch Vorteile, dass sie ihre Studienergebnisse angeheuerten Meinungsbildnern weitergeben, um
mit deren Hilfe "unlautere" Marketingvorteile zu erreichen.
Wenn der Bundesverband der Pharmahersteller BPI durch Blockade des Arzneiverordnungs-Report angeblich "unwissenschaftliche Bewertungen von
Arzneien" und somit "Ausgrenzungsstrategien aus politischer Motivation" verhindern will,3 muss den Kassen auch zugestanden werden,
Bewertungen firmenfinanzierter Meinungsbildner zu verhindern, die der Propagierung umstrittener Arzneimittel aus kommerziellen Gründen dienen. Wir warten
darauf, dass Krankenkassen den Spieß umdrehen und gegen Marketingaktivitäten von Firmen wegen unlauterer Datenweitergabe sowie Desinformation
klagen. Dann hätte der juristische Unsinn seine eigentliche Dimension erreicht und die Firmen ihr Eigentor.
Immer wieder wird behauptet, die Wirksamkeit eines Arzneimittels könne nicht umstritten sein, da solche "zwangsläufig keine
Zulassung"2 erhalten würden. Tatsache ist jedoch, dass die therapeutische Wirksamkeit im Arzneimittelgesetz ungenügend definiert ist und
selbst unkontrollierte Erfahrungsberichte oder Studien mangelhafter Qualität (a-t 5 [1988], 46) als "Wirksamkeitsbeleg" ausreichen. Die
Zulassungspraxis der Behörde wird außerdem vom jeweiligen Binnenkonsens in den Kommissionen beherrscht. Demnächst soll nach
Gesetzesvorlage die Kostenübernahme durch die Krankenkassen nicht mehr von einer Überprüfung des Nutzens nach Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnis erfolgen. Die Akzeptanz "in der jeweiligen Therapierichtung" soll ausreichen. Diese "Webfehler" der Gesetzgebung machen
Zulassungs- und Erstattungspraxis zu Formalprüfungen, die keine Rückschlüsse auf therapeutische Qualität erlauben.
70 % der in Deutschland angebotenen 50.000 Arzneimittel sind immer noch nicht auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Bereits vor Jahren kippte
SEEHOFER die Positivliste, die Orientierung versprach (a-t 11 [1996], 110). Eine Aufstellung der bislang in der
Nachzulassung durchgefallenen Arzneimittel darf auf Geheiß des Ministeriums nicht veröffentlicht werden (a-t 7
[1997], 79). So werden Anbieter umstrittener Arzneimittel ermutigt, weiterhin Produkte ohne qualifizierten Nachweis eines therapeutischen Nutzens zu
vermarkten und kritische Informationen durch Klagen zu unterdrücken. Das zerstört nicht nur jede Qualitätssicherung in der Therapie, sondern
verteuert diese auch um 40%: je zur Hälfte für nutzlose und für zu teure Produkte.4
1 | KV Journal Hamburg II/1987, 24 |
2 | WIESENAUER, M.: Ärzte Ztg. vom 26. Sept. 1997 |
3 | Ärzte Ztg. vom 29. Sept. 1997 |
4 | VITT, K. D: et al.: Gesundh.-Wes. 57 (1995), 171 |
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