Die Einführung der Proteasehemmer 1996 (a-t 6 [1996], 58) weckte bei Betroffenen und
behandelnden Ärzten die Hoffnung, die HIV-Infektion könne eine behandelbare chronische Erkrankung werden. Durch frühzeitige aggressive
Intervention ("Hit hard and early") ließe sich das Virus womöglich völlig eliminieren. Heute gilt es als unwahrscheinlich, dass die derzeit
verfügbare antiretrovirale Therapie die Infektion (jenseits des Akutstadiums) heilen kann. Die Mittel verhindern nur die Neuinfektion von Zellen, bereits infizierte,
auch langlebige Zellen werden nicht beeinflusst. Das HI-Virus vermehrt sich rasch. Die fehleranfällige Übersetzung der Erbinformation durch die reverse
Transkriptase lässt viele Mutanten entstehen. Arzneimittelresistenz entwickelt sich schnell, wenn die Replikation nicht vollständig unterdrückt wird.
Wegen Kreuzresistenzen innerhalb der Wirkstoffgruppen mangelt es nach Therapieversagen an wirksamen Reservemitteln.
"Die HIV-Therapie vergibt nicht".1 Einmal angefangen müssen sich HIV-Patienten wahrscheinlich lebenslang strikt an ein kompliziertes und
belastendes Mehrfachregime halten: Mindestens 10 bis 20 Tabletten täglich in mehreren Dosierungen, bei zum Teil rigiden Diätvorschriften. Drei neuere
Studien belegen, dass sich mit vereinfachter Erhaltungstherapie das Virus nicht hinreichend unterdrücken lässt.2-4 Wie man von anderen
chronischen Erkrankungen weiß, sinkt die Compliance mit der Komplexität der Medikation, von 62% bis 87% bei einer Dosis auf unter 40% bei drei bis vier
Dosierungen pro Tag.5 Stör- und Wechselwirkungen der Arzneistoffe beeinträchtigen ebenfalls die Einnahmezuverlässigkeit. Nukleosidale
Reverse-Transkriptasehemmer können periphere Neuropathie, Pankreatitis, Blutschäden oder Myopathie auslösen. Umverteilung des
Körperfetts und Anstieg der Lipide im Plasma, Atherosklerose sowie Diabetes mellitus belasten die Therapie mit Proteasehemmstoffen (a-t 8 [1998], 76).
Eine lebensverlängernde Wirkung der Behandlung ist bislang nur für die fortgeschrittene HIV-Erkrankung mit CD4-Zellzahl unter 350 pro µl oder
AIDS belegt. Für Patienten im Frühstadium, denen die Infektion selbst keine Beschwerden verursacht, wiegt die Einschränkung der
Lebensqualität durch die Therapie schwerer. Sie sind schlechter für die erforderliche strenge Disziplin zu motivieren. Entstehen aber durch
unzuverlässige Einnahme Resistenzen, sind die Behandlungsmöglichkeiten unter Umständen schon vor Ausbruch von AIDS verwirkt. Es mehren
sich Stimmen, die entgegen offiziellen Empfehlungen für Abwarten plädieren, bis dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht:5,6 bei
Symptomen oder - als Richtwert - bei CD4-Zellzahl unter 400/µl und Viruslast über 30.000/ml.6 Um die Entscheidung informiert und
verantwortlich treffen zu können, sollen die Patienten vor Beginn gut darüber aufgeklärt sein, was tatsächlich belegt ist, wie schnell sich der
Kenntnisstand wandelt und was derzeit nur geglaubt bzw. erhofft werden kann. Ein sorgfältiger Therapieplan unter Berücksichtigung der individuellen
Lebensumstände kann helfen, Compliance-Probleme zu vermeiden.
FAZIT: Die antiretrovirale Therapie der HIV-Infektion wirkt im fortgeschrittenen Stadium nachweislich lebensverlängernd, verlangt aber ein hohes Maß
an Disziplin. Ein kompliziertes und belastendes Behandlungsregime muss wahrscheinlich lebenslang strikt eingehalten werden. Bei Einnahmefehlern drohen
Resistenzen, für die es dann an Reservemitteln mangelt. Mit frühzeitigem Therapiebeginn ("Hit hard and early") tut man den Patienten
möglicherweise keinen Gefallen. Es wird daher zunehmend für Abwarten plädiert, bis dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht.
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