"Freiwillige oder Opfer?" hinterfragt die englische Tageszeitung The Guardian die Begleitumstände, unter denen ein Herzinfarkt-Patient
Anfang 1998 in einer Klinik in Buenos Aires verstarb. Zur Überraschung der Angehörigen stellte sich heraus, dass dieser eine
Einverständniserklärung zur Teilnahme an einer klinischen Studie unterzeichnet haben soll. Dabei war der Patient bei Einlieferung in die Klinik bewusstlos.
Unterschrift und Krankengeschichte waren gefälscht, ebenso wie die von etwa 110 anderen Patienten.1 Offensichtlich ist die Prämie von
Hoechst (jetzt Aventis) von rund 3.000 (pro Patient so verlockend, dass Ärzte Studieneinschlusskriterien missachteten und Unterlagen fälschten.
Es geht um Cariporid, einen so genannten Natrium/Protonen-Austauschblocker. Die Erwartungen in das neue Wirkprinzip sind groß. Aventis strebt
Umsätze von mehr als 350 Millionen US Dollar im Bypass-Geschäft an.2 Der Natrium/Protonen-Austausch, Regulationsmechanismus für den
pH-Wert, gerät in mangeldurchbluteten Herzzellen außer Kontrolle. Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris oder Herzinfarkt sind die Folge.
Austauschblocker wie Cariporid sollen dies abwenden und Reperfusionsschäden (z.B. bei der Lysetherapie) oder eine Progression von Folgeschäden (z.B.
bei der Ischämie während Bypass-Operation) verhindern.3,4 Tierversuche lassen kardioprotektive Effekte von Blockern wie Cariporid,5
Zoniporid6 und Eniporid7 vermuten.
In der multizentrischen randomisierten, plazebokontrollierten GUARDIAN*-Studie sollte dies für Cariporid bestätigt werden.8 Die Studie gilt indes
als "Flop".9 Statt dosisabhängiger myokardialer Protektion wird Dosisabhängigkeit von Nebenwirkungen gefunden. Weil in Phase-I-Studien
140 mg als Einzeldosis gerade noch toleriert wurden,10 sind in der GUARDIAN-Studie Tagesdosierungen von höchstens 3 x 120 mg vorgesehen.
Lediglich in einer der zwölf Untergruppen - bei Bypass-Patienten, die das Mittel vor der Eingriff-bedingten Ischämie erhalten -, findet sich eine signifikante
Reduktion nicht tödlicher Herzinfarkte von 12% auf 7,1%. Die Autoren spekulieren, dass möglicherweise die minimal effektive Dosis entdeckt sei,
schließen aber Zufall nicht aus. Basierend auf dieser Spekulation wird jetzt die Phase-III-Studie EXPEDITION* mit ca. 7.000 Patienten und dreifach
höherer Tagesdosis (ca. 1.000 mg) geplant. Auch Pfizer steht mit Zoniporid in den Startlöchern.6
Die Begeisterung für Natrium/Protonen-Austauschblocker dürfte allerdings seit November 2001 durch die Ergebnisse der ESCAMI*-Studie11 getrübt
sein. In dieser doppelblinden, plazebokontrollierten Phase-II-Studie wird Eniporid (Merck) bei Patienten mit Myokardinfarkt geprüft, die entweder lysiert werden
oder eine Angioplastie erhalten. Zwischen Verum (50 mg bis 200 mg) und Plazebo findet sich kein signifikanter Unterschied in Bezug auf die Infarktgröße,
jedoch ein "nicht signifikanter Trend für erhöhte Sterblichkeit, insbesondere bei der 200-mg-Gruppe".12 Diese Interpretation bezieht sich
offensichtlich nur auf die Frühmortalität (6 Wochen), denn nach sechs Monaten sind unter Plazebo 4,4% der Patienten (18 von 410), unter 200 mg
Eniporid aber 12,1% (11 von 91) verstorben.11 Daraus ergibt sich eine signifikante Dosisabhängigkeit der Mortalität (linearer Trend) und ein
(grenzwertig) signifikanter Unterschied zwischen Verum- und Plazebogruppen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten an den Folgen der Therapie zu Tode
kommen, ist somit nicht vernachlässigbar gering.
In der GUARDIAN-Studie fehlen Angaben zur Mortalität unter Cariporid nach einem halben Jahr oder später. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass es
sich um einen Klasseneffekt der Wirkgruppe handelt. Auch bei Mäusen, bei denen der Natrium-Protonen-Austausch durch genetische Manipulation auf Dauer
ausgeschaltet ist, fällt erhöhte Mortalität im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen auf.13
Die klinischen Daten sprechen gegen die Hypothese, dass Natrium/Protonen-Austauschblocker wie Cariporid (Aventis) oder Eniporid (Merck) bei Herzinfarkt eine
Schädigung von Herzzellen verhindern. Im Gegenteil: Hinweise auf erhöhte Sterblichkeit sind alarmierend.
... und Fragen nach Ethik und Haftung
Die Vorgänge um die Erprobung der neuen Herzmittel werfen ethische Fragen auf. Firmen verlagern klinische Studien zunehmend in
Regionen wie Lateinamerika, in denen der Patientenschutz weniger gut ist als in Europa oder Nordamerika. Lukrative Prämien und unzureichende Kontrollen
der Prüfärzte gefährden Patienten. Auch Qualität und Zuverlässigkeit der Daten leidet.
Ist es überhaupt zu verantworten, dass noch Phase-III-Studien durchgeführt werden, wenn bereits jetzt für Eniporid ein deutlicher
dosisabhängiger Trend zu erhöhter Mortalität belegt ist? Wie ist die Haftung bei negativem Ausgang geregelt? Werden Angehörige
entschädigt? Die gesetzlich vorgeschriebene Personenschadenversicherung greift nur, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen experimenteller
Intervention und Tod besteht. Welche Absicherung besteht jedoch, wenn sich interventions- und krankheitsbedingte Todesursachen nicht unterscheiden lassen?
In der CAST*-Studie14 beispielsweise waren zum Zeitpunkt des vorzeitigen Studienabbruchs 7% (56 Personen) der Flecainid (TAMBOCOR)-Gruppe an
kardialen Ursachen wie ventrikulären Rhythmusstörungen verstorben, aber nur 3% (22 Personen) unter Plazebo (a-t 1992; Nr. 6: 54-6). Während die erhöhte Todesrate unter Verum für das Kollektiv gesichert ist,
lässt sich für keinen der schwer Herzkranken die Grundkrankheit als Todesursache ausschließen, sodass der Kausalitätsnachweis im Einzelfall
nicht möglich ist. Es lässt sich nicht feststellen, wer unter Verum studien- und wer krankheitsbedingt verstorben ist. Die gesetzlichen Regelungen zum
Schutz der Patienten bei klinischen Prüfungen gehen hier ins Leere. Uns ist kein Versicherer bekannt, der einen derartigen Schaden abdecken würde.
Hinzu kommt, dass die Teilnahme an einer klinischen Prüfung der Charakterisierung des Studienmedikamentes und damit in erster Linie dem Nutzen
künftiger Patienten, aber nicht dem individuellen Nutzen der Versuchsteilnehmer dient.15 Diese riskieren unter Umständen ihr Leben - zum
Nutzen des Herstellers und letztlich auch des Gemeinwohles. Für den Schaden, den die Angehörigen erleiden, tritt aber niemand ein. Die derzeitigen
gesetzlichen Vorkehrungen beruhen somit auf veralteten Konzepten. Auch das laufende Gesetzgebungsverfahren zur Verschärfung der Haftung
berücksichtigt dies nicht. Ärzte, Industrie, Versicherer, Behörden und Gesetzgeber sind gefordert, zusammen mit Patientenvertretern für Abhilfe
zu sorgen.
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CAST = Cardiac Arrhythmia Suppression Trial
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GUARDIAN = Guard During Ischemia Against Necrosis
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EXPEDITION = Auflösung dieses Akronyms ist uns nicht bekannt
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ESCAMI = Evaluation of the Safety and Cardioprotective Effects of Eniporide in Acute Myocardial
Infarction
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