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Im Blickpunkt

VORSICHT "NEUES ARZNEIMITTEL"!

Kaum zu glauben: Erneut kommt ein nichtsteroidaler Entzündungshemmer (NSAR), Parecoxib (DYNASTAT), zur parenteralen postoperativen Schmerztherapie in den Handel, einer Indikation, die wegen Gefahr des Nierenversagens korrekterweise als Gegenanzeige gelten müsste (Seite 62). Dabei sollten Hersteller und Behörden es eigentlich besser wissen: 1993 wurde in Deutschland die Vermarktung des NSAR Ketorolac (TORATEX) für dieselbe Indikation nach mehr als 90 - auch damals nicht unerwarteten - Todesfällen unterbunden (a-t 1994; Nr. 1: 2). In den USA ist Ketorolac zwar immer noch zur postoperativen Schmerzlinderung erhältlich, dort allerdings zum Problemarzneimittel mit umfangreichen Warnhinweisen auf "zahlreiche Risiken"1 geworden. Dass international unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden, ist nicht ungewöhnlich. So ist in den USA das kardiotoxische Antiallergikum Terfenadin (TERFEDURA u.a.) längst vom Markt, während es hierzulande immer noch von Anbietern wie Merck dura, Ratiopharm und Stadapharm angeboten wird, ohne dass es irgendeinen therapeutischen Vorteil gegenüber weniger kardiotoxischen Antiallergika wie Cetirizin (ZYRTEC u.a.), Loratadin (LISINO u.a.) oder der Terfenadin- Nachfolgesubstanz Fexofenadin (TELFAST) besitzt.

Die ersten Monate und Jahre nach Markteinführung sind eine besonders gefährliche Phase. Trotz der geringen Erfahrungen aus der klinischen Erprobung streben Firmen die möglichst rasche und breite Vermarktung ihrer Produkte an, um die verbleibende Zeit des Patentschutzes maximal auszunutzen. Die Situation nach Markteinführung kommt dadurch einem unkontrollierten Massenversuch gleich. Schließlich sind neue Stoffe vor der Vermarktung üblicherweise nur bei einer geringen Zahl meist ausgewählter Patienten, oft unter Ausschluss von häufig vorkommenden Begleiterkrankungen beziehungsweise Risikopatienten, und über eine nur kurze Zeitspanne erprobt. Bisweilen kommen sie auf den Markt, ohne dass kontrollierte randomisierte klinische Studien veröffentlicht sind, wie etwa beim Ketolid-Antibiotikum Telithromycin (KETEC; a-t 2001; 32: 99- 100). Im Einzelfall sind die Studien noch nicht einmal abgeschlossen, wie beim Leukämiemittel Imatinib (GLIVEC; a-t 2001; 32: 117-8).

Bei mehr als jedem zehnten chemisch neuen Arzneistoff (56 von 448), der zwischen 1975 und 1999 in den USA auf den Markt kam, musste die Produktinformation um Warnhinweise auf zuvor unbekannte bedrohliche Risiken ergänzt oder das Mittel aus dem Handel gezogen werden. Jede zweite Marktrücknahme erfolgt innerhalb von zwei Jahren nach Inverkehrbringen eines neuen Arzneimittels, jeder zweite Warnhinweis innerhalb von sieben Jahren.2 Das bedeutet jedoch auch, dass das besondere Schädigungspotenzial bei der Hälfte der Präparate erst nach langjährigem Gebrauch erkannt wird, wie etwa bei der chaotischen Kammertachykardie (Torsade de pointes) unter Terfenadin oder Cisaprid (früher ALIMIX, PROPULSIN; a-t 2000; 31: 40).

Arzneimittelabstürze kommen dennoch selten aus heiterem Himmel. Sie wären meist vermeidbar, wenn vor der Zulassung Warnsignale ernst genommen und beachtet würden. Fehleinschätzungen beruhen nicht nur auf dem Druck der Hersteller, die nach der Prüfphase möglichst rasch Umsatz machen wollen. Auch über Zulassungsgebühren finanzierte Aufsichtsbehörden gleichen zunehmend kommerziellen Unternehmen, die im Hinblick auf die Entgelte für Zulassungen untereinander in Konkurrenz stehen - weniger um die Qualität der Prüfung als um die von Firmen geforderte Schnelligkeit der Zulassungserteilung (a-t 1998; Nr. 4: 37-8). Kritische Mitarbeiter werden innerhalb von Behörden ausgebremst oder "umgesetzt", weil sie den Zulassungsbetrieb "stören". So widersprach der zuständige Sachbearbeiter der amerikanischen Behörde FDA vor mehr als 30 Jahren der Zulassung des Appetithemmers Fenfluramin (PONDERAX), weil dessen Nutzen auf den Verlauf der Erkrankung nicht belegt war. Statt Verbesserung der Datenlage zu fordern, wurde der Kollege versetzt und das Mittel zugelassen.3 Inzwischen sind Fenfluramin und die Variante Dexfenfluramin (ISOMERIDE) wegen Schädigung von Herzklappen - bei immer noch fehlendem Beleg des Langzeitnutzens - weltweit außer Handel (a-t 1999; Nr. 12: 121-3).

Auch das vor drei Jahren eingeführte Antiadipositum Sibutramin (REDUCTIL) kam gegen Expertenrat auf den Markt. Die klinische Prüfung ließ bereits vor der Zulassung bei geringem Einfluss auf das Körpergewicht Anstiege des Blutdrucks erkennen, die für Übergewichtige gefährlich sein können. Die FDA überblickt derzeit 29 Todesfälle in Verbindung mit Sibutramin, darunter 19 aus kardiovaskulärer Ursache einschließlich Herzinfarkt. Bei 143 Patienten sind Arrhythmien beschrieben.3 In den internen Zulassungsdossiers der FDA findet sich die Einschätzung, dass Sibutramin "wesentliche Übergewicht-bedingte Begleiterkrankungen nicht verbessert, sondern in einigen Fällen verschlechtert".3 Trotzdem wurde Sibutramin weltweit zugelassen und wird weiterhin auf dem Markt gehalten. Der Knoll/Abbott-Konzern fällt zudem durch Datenunterdrückung und aggressives Marketing auf. In den USA leitete Abbott Berichte über unerwünschte Wirkungen einschließlich Todesfälle nicht wie vorgeschrieben an die FDA weiter.4 In Deutschland hat Knoll/Abbott REDUCTIL wiederholt direkt beim Verbraucher beworben (a-t 1999; Nr. 4: 41-2, blitz-a-t vom 8. März 2002), obwohl hierzulande DTC-Werbung (Direct-To-Consumer-Werbung) für verschreibungspflichtige Mittel verboten ist.

Die Zulassung der Potenzpille Sildenafil (VIAGRA) vor vier Jahren hätte die europäische Behörde wohl kaum noch versagen können, nachdem die Vermarktung in den USA einen Medienrummel ohnegleichen ausgelöst hatte (a-t 1998; Nr. 6: 53-4). Unsere Forderung nach Marktrücknahme, damit die weitere klinische Sicherheitsüberprüfung unabhängig vom öffentlichen Druck erfolgen könne, musste verhallen. Heute werden in Spontanerfassungssystemen weltweit mehr als 1.000 Todesfälle Sildenafil zugeschrieben (a-t 2002; 33: 31). Angesichts der üblichen Dunkelziffer5 könnte dies 50.000 Todesfällen entsprechen. Die Marktrücknahme ist dennoch für Hersteller und Behörden kein Thema.

Auf das als Raucherentwöhnungsmittel angebotene Bupropion (ZYBAN) sollte nach unserer Einschätzung verzichtet werden. Der dürftige Nutzen wird durch Risiken wie Krampfanfälle und Tod nicht aufgewogen (weltweit 245 Tote in Verbindung mit Bupropion; a-t 2002; 33: 47-8).

Bedenken gegen Glitazon-Antidiabetika wie Pioglitazon (ACTOS) und Rosiglitazon (AVANDIA) wegen Leberschädigung, Herzinsuffizienz, Gewichtszunahme und mangelnder Langzeiterfahrungen (a-t 2001; 32: 64) werden vom Firmenmarketing und bezahlten Meinungsbildnern verschleiert - zum Schaden der Patienten. Es geht auf diesem Marktsegment um viel Geld. Dies gilt auch für die teuren und unzureichend erprobten Kunstinsuline vom Typ Insulin Glargin (LANTUS), für das Geld verschleudert wird, obwohl es im Gegensatz zu Humaninsulin potenziell kanzerogen wirkt und möglicherweise Retinopathien fördert.

Insgesamt zeichnet sich eine Tendenz zur Verschlechterung ab. Immer häufiger stellen wir fest, dass Arzneimittel zugelassen werden, obwohl die Abwägung von Nutzen und Schaden negativ ausfallen müsste, aktuell beispielsweise beim Cox-2-Hemmer Parecoxib, dem Gyrasehemmer Gatifloxacin (BONOQ) oder dem Neuroleptikum Ziprasidon (ZELDOX) (siehe Tabelle 1).

Patienten und verordnende Ärzte setzen verständlicherweise Hoffnungen auf neue Arzneimittel. Die Bezeichnung "neu" kennzeichnet jedoch keinen Produktvorteil, sondern muss als Zusatzrisiko verstanden werden und zu besonderer Zurückhaltung und Vorsicht mahnen. Wegen des unzureichenden Kenntnisstandes bei Markteinführung sollten Neuerungen nur dann verordnet werden, wenn ältere gleich wirksame Medikamente mit besserem Erfahrungshintergrund fehlen. Patienten, die neue Arzneimittel erhalten, müssen darüber informiert werden, dass auch hinsichtlich der Sicherheit nur begrenzte Erfahrungen bestehen.

"Innovative Therapien sind wichtig. Existieren jedoch bereits sichere und wirksame Behandlungen muss jedes neue Arzneimittel als ,Black Box' angesehen werden."2

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