1953 legte erstmals eine Fallserie aus der Schweiz die Assoziation zwischen dem Konsum Phenazetin-haltiger Kombinations-Analgetika und einer
bestimmten Form der interstitiellen Nephritis nahe.1 Die Analgetikanephropathie gilt seither als eigene Entität, hervorgerufen durch jahrelange
missbräuchliche Einnahme von Nicht-Opioid-Analgetika (vgl. a-t 1998; Nr. 2: 13-4), begonnen meist aufgrund von
Kopfschmerzen.2 Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein als Männer.3 Als pathophysiologische Charakteristika gelten
Papillennekrosen und eine interstitielle Nephritis.4 Trotz zahlreicher klinischer und experimenteller Studien ist der der Analgetikanephropathie zu Grunde
liegende Pathomechanismus nicht aufgeklärt.5 Gut validierte Diagnosemethoden fehlen.
Nach wie vor wird kontrovers diskutiert, welche Analgetika für die Entstehung der Nephropathie verantwortlich sind. Vor allem geht der Streit darum, ob
Mischanalgetika, z.B. mit Parazetamol, Azetylsalizylsäure und Koffein (THOMAPYRIN u.a.; a-t 2002; 33: 117-8; s.
Tabelle/Kasten), ein besonderes Risiko bedeuten. Zahlreiche Autoren definieren die Analgetikanephropathie ausdrücklich als Folge der Einnahme von
Kombipräparaten.2,4,6,7 Analgetikanephropathie unter Einnahme von Monopräparaten wird kaum beschrieben.8
Insbesondere von Herstellern und Hersteller-nahen Experten wird die kausale Rolle von Mischanalgetika (außer von Phenazetin-haltigen) bei der Entstehung
der Analgetikanephropathie als nicht ausreichend belegt bezeichnet.9 Gegen die alleinige Rolle von Phenazetin als schädigendes Agens spricht aber,
dass es schon bei der ersten Leberpassage nahezu vollständig zu Parazetamol verstoffwechselt wird und selbst nur in sehr geringen Mengen die Nieren
erreicht. Nach experimentellen Daten scheinen Kombinationen (auch solche mit Parazetamol) nierentoxischer zu sein als Einstoffanalgetika.10 Als Hinweis
auf die Schädlichkeit von Mischanalgetika, die kein Phenazetin enthalten, gilt auch der Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Nephropathie und
dem Zeitpunkt von Zulassungsänderungen: So soll eine Abnahme der Häufigkeit z.B. in Australien nicht schon nach der Rücknahme von
Phenazetin, sondern erst nach Verzicht auf sämtliche Kombianalgetika erreicht worden sein (a-t 1999; Nr. 5:
55).6 Die Aussagekraft dieser so genannten Korrelationsstudien wird jedoch in Zweifel gezogen.11 Die Klärung ist wegen der
Komplexität der Fragestellung methodisch ausgesprochen schwierig und bis heute nicht abschließend gelungen.
Aufgrund der relativen Seltenheit der Erkrankung sowie der langen Latenz zwischen Exposition und Beginn der Erkrankung ist das Konzept der Fall-Kontroll-Studien
zur Klärung prinzipiell am besten geeignet. Dieser Studientyp ist jedoch sehr anfällig für Verzerrungen des Ergebnisses ("Bias"). So besteht
generell die Gefahr eines Erinnerungsbias ("recall bias"), da erkrankte Patienten (= Fälle) sich in der Regel besser (evtl. auch fälschlich) an eine
Medikamenteneinnahme erinnern als Patienten ohne Erkrankung (= Kontrollen). Dies führt zu einer Überschätzung des Medikamenteneinflusses.
Andererseits wird Analgetikamissbrauch ungern zugegeben. Dies führt zur Unterschätzung des Risikos. In den älteren Fall-Kontroll-Studien12-
18 wurden Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz als "Fälle" ausgewählt. Bei ihnen ist jedoch aufgrund der langen Krankheitsdauer
kaum unterscheidbar, ob die Einnahme von Schmerzmitteln die Ursache der Nierenerkrankung oder bereits eine Folge darstellt (Einnahme aufgrund von
Beschwerden durch die beginnende Nierenerkrankung). Zudem wird die viele Jahre zurückreichende Medikamentenanamnese dadurch erschwert, dass die
Inhaltsstoffe der Präparate oftmals trotz gleichbleibender Handelsnamen und unverändertem Packungsbild erheblich verändert wurden - zum Teil
ohne Kenntnis der Anwender.
Trotz der methodischen Schwächen erlauben die Ergebnisse Rückschlüsse: Mit einer Ausnahme13 beschreiben alle älteren
analytischen Studien - sechs Fall-Kontroll-12,14-18 und zwei Kohortenstudien19,20 - eine Korrelation zwischen chronischem Gebrauch von
Analgetika und dem Risiko für chronische Niereninsuffizienz. Eine eindeutige Gefährdung stellt die Einnahme Phenazetin-haltiger Mischpräparate dar
(OR* bis 19; 95% Vertrauensintervall [CI] 2-15716). Diese dominieren in den älteren Untersuchungen als die am meisten "missbrauchten"
Schmerzmittel. Phenazetin - das in Deutschland erst in den 80er Jahren überwiegend durch Parazetamol (BENURON u.a.) ersetzt wurde - war fast immer
Bestandteil von Analgetikakombinationen. Ein Risikoanstieg unter definierten anderen Substanzen oder Kombinationen wird ebenfalls beschrieben, lässt sich
jedoch in diesen Studien wegen der geringeren Datenbasis nicht hinreichend absichern.
In einer neueren, methodisch valideren Fall-Kontrollstudie aus Schweden21 werden bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion erstmals
gezielt Daten zur Einnahme von Parazetamol und Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) erhoben. Die Untersuchung umgeht methodische Schwierigkeiten, die
entstehen, wenn Patienten in weiter fortgeschrittenen Krankheitsphasen (terminale Niereninsuffizienz) befragt werden. Für beide Wirkstoffe ergibt sich bei
regelmäßiger Einnahme gegenüber Nichteinnahme eine dosisabhängige Erhöhung des Risikos für eine Niereninsuffizienz (OR = 2,5;
95% CI 1,9-3,3 [ASS] bzw. 1,7-3,6 [Parazetamol]). Bei gleichzeitigem Gebrauch beider Wirkstoffe erhöht sich das Risiko nochmals im Vergleich zur Einnahme
der Einzelsubstanzen. Dies kann ein Hinweis auf schädigende synergistische Effekte sein. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bei praktisch allen
"Fällen" eine renale oder systemische Vorerkrankung wie Glomerulonephritis, Diabetes oder Hypertonie bestand, die zu Niereninsuffizienz
prädisponiert. Die Möglichkeit eines "Confounding durch Indikation" - die Grunderkrankung prädisponiert sowohl zu Niereninsuffizienz als
auch zu erhöhtem Schmerzmittelbedarf - besteht auch in dieser Studie.
Andererseits konnte für die dauerhafte Einnahme von Einstoffpräparaten mit Parazetamol, ASS oder nichtsteroidalen Antirheumatika in einer großen
Kohortenstudie22 mit primär gesunden US-amerikanischen Ärzten kein erhöhtes Risiko errechnet werden. Da diese Untersuchung
ausschließlich mit gesunden Männern durchgeführt wurde, ist sie wahrscheinlich für die Fragestellung nicht sensitiv genug, gibt aber Hinweise
darauf, dass das Risiko in diesem Kollektiv (gesunde Männer) insgesamt gering ist.
Für Koffein als Zusatz wurde in einer Studie ein unabhängiges zusätzliches Risiko errechnet.17 Die Bedeutung des Befundes wird jedoch
eingeschränkt, da Kaffeekonsum als weitere wichtige Koffeinquelle in der Erhebung nicht berücksichtigt wurde. Koffein als Bestandteil von
Kombinationsanalgetika könnte jedoch u.a. wegen seines stimulierenden Effektes und des Entzugkopfschmerzes dem Dauergebrauch Vorschub leisten. In den
USA wird derzeit eine weitere Studie zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Schmerzmitteln und Nephropathie vorbereitet.23
Für Phenazetin-haltige Kombinationspräparate existiert eine breite
Datenbasis, die den Zusammenhang mit Analgetikanephropathien nahe legt.
Die Evidenz, dass Langzeitgebrauch anderer Analgetika nierenschädigend
wirken kann, ist zwar schwächer, wird jedoch durch weitgehend kohärente Resultate der epidemiologischen Studien und experimentelle Daten
gestützt.
Für die Auffassung, dass die heute angebotenen Kombipräparate bei
Langzeitgebrauch stärker schädigend wirken als Monopräparate, sprechen experimentelle Daten und in begrenztem Maße epidemiologische
Studien.
Da für Kombinationsanalgetika keine relevanten klinischen Vorteile ersichtlich
sind - für die angeblich potenzierte Wirksamkeit fehlen Belege - und Koffeinbeimischungen Dauergebrauch möglicherweise fördern, raten wir
unverändert vom Gebrauch von Mischanalgetika ab. Der Verkauf dieser Produkte ist rückläufig.
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