Ende Juni haben in Deutschland die Gesundheitsminister der Bundesländer beschlossen, bis zu 200 Mio. € für die Einlagerung der
Neuraminidasehemmer Oseltamivir (TAMIFLU) und Zanamivir (RELENZA) aufzuwenden,
um für eine mögliche, seit Jahren erwartete Grippe-Pandemie gerüstet zu sein. Sie folgen damit den Empfehlungen eines vom Robert Koch-Institut
vorgelegten nationalen Influenzapandemieplans.1 Dieser sieht unter anderem die Bevorratung mit Neuraminidasehemmern vor, vorzugsweise dem oral
anwendbaren Oseltamivir, um die Zeit bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes zu überbrücken. Die Neuraminidasehemmer sollen dabei vorrangig zur
Behandlung von Patienten mit hohem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf, erkranktem medizinischen sowie Sicherheits- und Ordnungspersonal (z.B.
Polizei) eingesetzt werden. Zusätzlich wird über eine Langzeitprophylaxe besonders gefährdeter und exponierter Berufsgruppen sowie eine
Postexpositionsprophylaxe bei Kontaktpersonen nachgedacht. Im Pandemieplan wird dabei davon ausgegangen, dass sich bei einer Therapie aller Erkrankten mit
antiviralen Arzneimitteln die Hälfte der Todesfälle verhindern lässt. Eine zusätzliche Prophylaxe für die priorisierten Berufsgruppen
würde die Zahl der Todesfälle demnach um weitere 10% senken.1 Ob Oseltamivir und Zanamivir diese Erwartungen erfüllen können,
ist aber ungewiss.
Tatsächlich wird in den Untersuchungen zur Therapie der Virusgrippe mit Oseltamivir primär die Verkürzung der Krankheitsdauer
geprüft (a-t 2002; 33: 98-100). Zweimal täglich 75 mg über einen Zeitraum von fünf Tagen
reduzieren die mediane Erkrankungsdauer bei gesunden Erwachsenen und Jugendlichen ab 13 Jahren um einen Tag, bei ansonsten gesunden Kindern um
1,5 Tage.2-4 Für Risikopatienten (Personen ab 65 Jahren und Patienten mit chronischen kardialen und/oder respiratorischen Erkrankungen) lässt
sich dieser Effekt nicht sichern, ebensowenig für Kinder mit Asthma.2,3,5 Auch eine Verringerung von Komplikationen ist bislang nur für
gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene belegt: Bei Kindern werden antibiotisch behandelte Sekundärerkrankungen, vor allem
Mittelohrentzündungen, von 28% auf 17% gesenkt.4 Für gesunde Jugendliche und Erwachsene ergibt eine gepoolte Analyse von zehn
plazebokontrollierten Studien eine Verminderung antibakteriell behandelter Infekte der unteren Atemwege (5,3% versus 1,7%), in erster Linie Bronchitiden.6
Diagnose und Entscheidung über den Einsatz von Antibiotika oblag in den Untersuchungen dem klinischen Urteil der behandelnden Ärzte. Eine
radiologische oder mikrobiologische Diagnostik war dafür nicht erforderlich. Ein Einfluss auf Lungenentzündungen lässt sich - vermutlich wegen des
seltenen Auftretens (1,4% versus 0,2%) - statistisch nicht belegen.6 Bei Risikopatienten deutet sich ebenfalls eine Verringerung Antibiotika-
"pflichtiger" Infektionen der unteren Atemwege an (18,5% versus 12,2%, p = 0,02; über 80% Bronchitiden).6 Laut Fachinformation betrifft
dies nur ältere Personen ohne zusätzliche Risikofaktoren, während sich für Patienten mit chronischen kardialen und/oder respiratorischen
Vorerkrankungen kein Nutzen sichern lässt.2 Eine Verminderung von Krankenhausaufnahmen ist ebenfalls nicht hinreichend belegt.6
Gestorben ist gemäß dieser Analyse keiner der eingeschlossenen 2.413 Patienten mit bestätigter Influenzaerkrankung.6 Derzeit gibt es
weder aus randomisierten noch aus epidemiologischen Studien Daten zur Senkung der Mortalität unter Oseltamivir.7
Die frühzeitige siebentägige Einnahme von Oseltamivir (75 mg/Tag) nach engem Kontakt mit einem klinisch an Grippe Erkrankten
(Postexpositionsprophylaxe) senkt die Zahl von Influenzaerkrankungen signifikant von 7,4% auf 0,8%. Die Prophylaxe muss hierzu spätestens 48
Stunden nach Auftreten erster Symptome in der häuslichen Gemeinschaft beginnen. Auswertungen zum Nutzen bei besonders gefährdeten Personen
sowie zu Komplikationsraten fehlen.8
Daten zur saisonalen Prophylaxe mit Oseltamivir (75 mg/Tag) liegen bislang nur für einen Zeitraum von sechs Wochen vor: Bei gesunden ungeimpften
Erwachsenen sinkt die Erkrankungsrate von 4,8% unter Plazebo auf 1,2%. Ein Einfluss auf Komplikationen ist nicht geprüft.9 Bei älteren
Bewohnern von Pflegeheimen, für die eine Langzeitprophylaxe laut Pandemieplan bislang nicht vorgesehen ist, ist eine Verringerung laborbestätigter
symptomatischer Influenzaerkrankungen von 4,4% auf 0,4% belegt. Grippekomplikationen wie Bronchitis, Sinusitis und Pneumonie scheinen ebenfalls abzunehmen
(2,6% versus 0,4%, p = 0,037, sekundärer Endpunkt).10 Diese Daten lassen sich aber schon deshalb nicht auf eine Pandemiesituation
übertragen, da mehr als 80% der Teilnehmer zusätzlich gegen Influenza geimpft waren.
Unter Oseltamivir kommt es häufig zu Übelkeit, Erbrechen (je 8%) und Bauchschmerzen. In Studien zur Prophylaxe klagen 20,1% über
Kopfschmerzen (Plazebo 17,5%).2 Schwere Hautreaktionen wie STEVENS-JOHNSON-Syndrom und Leberfunktionsstörungen einschließlich
Hepatitis sind beschrieben.2
Resistenzen gegen Oseltamivir sind offenbar in der Praxis häufiger als vermutet: Eine japanische Arbeitsgruppe wies vergangenes Jahr bei 9 (18%) von
50 Kindern, die den Neuraminidasehemmer wegen vermuteter Virusgrippe einnahmen, Veränderungen der viralen Neuraminidase nach, die bei 8 Kindern (16%)
mit Resistenzen gegen Oseltamivir einhergingen (a-t 2004; 35: 97).
Zanamivir ist im Gegensatz zu Oseltamivir hierzulande ausschließlich zur Therapie der Influenza A und B bei Jugendlichen ab 12
Jahren und Erwachsenen zugelassen. Weil es inhaliert werden muss und keine Zulassung zur Vorbeugung hat, wird im Pandemieplan Oseltamivir
vorgezogen.1 Nach gemeinsamer Auswertung von drei Studien vermindert die zweimal tägliche Inhalation von Zanamivir bei Beginn innerhalb von 48
Stunden nach Einsetzen der Beschwerden die mittlere Erkrankungsdauer, primärer Endpunkt aller Phase-III-Studien, bei gesunden Erwachsenen
signifikant um 1,5 Tage.11 Allerdings lässt sich in der größten dieser Untersuchungen kein Nutzen absichern. Auch bei Patienten mit
respiratorischen Vorerkrankungen tritt eine Besserung der Grippebeschwerden 1,5 Tage früher ein als unter Scheinmedikament. Über 64-Jährige
profitieren in einer weiteren Studie nicht. Ein Einfluss auf Komplikationen lässt sich weder für Ältere noch für Patienten mit
respiratorischen Vorerkrankungen absichern.11 Daten zur Sterblichkeit finden wir auch für Zanamivir nicht.
Schwerwiegende Bronchospasmen, die auch Patienten ohne anamnestisch bekannte Atemwegserkrankungen betreffen, sind unter Zanamivir beschrieben (a-t 2000; 31: 23-4).
Alle Daten zu Neuraminidasehemmern wurden an den in den vergangenen Jahren zirkulierenden Influenzaviren erhoben. Ob und in welchem Ausmaß die Mittel
gegen ein bislang unbekanntes Pandemievirus wirksam sind, bleibt daher letztlich offen. In Vietnam wurde kürzlich bei einem Patienten, der Oseltamivir
eingenommen hatte, ein "Vogelgrippe"-Virus (H5N1) isoliert, das eine verminderte Empfindlichkeit gegenüber dem Neuraminidasehemmer
aufweist.12
Seit Jahren wird vor einer drohenden Grippe-Pandemie gewarnt. Ob und wann
diese kommen wird, ist ungewiss. Die bislang bekannten Erreger der Vogelgrippe werden nach Einschätzung der WHO offenbar nur schwer von Mensch zu
Mensch übertragen.13
Im nationalen Influenzapandemieplan wird davon ausgegangen, dass eine
Behandlung aller Erkrankten mit antiviralen Mitteln, vorzugsweise dem per os anwendbaren Neuraminidasehemmer Oseltamivir (TAMIFLU), die Zahl der Todesfälle halbiert.
Diese Annahme lässt sich nicht nachvollziehen, da Daten zum Einfluss von
Neuraminidasehemmern auf die Sterblichkeit von Grippekranken fehlen. Die WHO beurteilt den Nutzen hinsichtlich der Senkung der Mortalität nur als
"möglich".13 Auch eine Verringerung schwerer Sekundärkomplikationen wie Lungenentzündung ist unzureichend belegt.
In Deutschland sollen jetzt bis zu 200 Mio. € für die Einlagerung von
Neuraminidasehemmern aufgewendet werden. Zum Vergleich: In Asien werden in den nächsten zwei Jahren 83 Mio. € für ein Programm zur
Bekämpfung der Vogelgrippe benötigt. Davon wurde bislang gerade mal ein Zehntel aufgebracht.14
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