Influenza: Werden antivirale Mittel überschätzt? Eine systematische Übersicht zum Nutzen antiviraler Mittel in der Vorbeugung
und Behandlung der Virusgrippe bei gesunden Erwachsenen hat kürzlich für Aufregung gesorgt: Die Autoren, Mitglieder einer COCHRANE-Arbeitsgruppe,
kommen zu dem Schluss, dass die Neuraminidasehemmer Oseltamivir (TAMIFLU) und
Zanamivir (RELENZA) wegen ihres geringen Nutzens zur Kontrolle der herkömmlichen saisonalen Influenza überhaupt nicht und bei einer ernsten
Epidemie oder Pandemie nur zusammen mit weiteren Schutzmaßnahmen wie dem Tragen von Handschuhen oder Gesichtsmasken verwendet werden sollten.
Von den älteren, ausschließlich gegen Influenza A wirksamen Virustatika Amantadin (AMANTADIN-CT u.a.; s. auch Seite
23) und Rimantadin (hierzulande nicht im Handel) wird ganz abgeraten. In die Metaanalyse gehen insgesamt 53 randomisierte Studien ein, 19 mit
Neuraminidasehemmern und 34 mit Amantadin oder Rimantadin. Abgesehen von Rimantadin, für das vergleichsweise wenig Daten vorliegen, die für
zuverlässige Aussagen nicht ausreichen, lassen sich zwischen den übrigen Substanzen keine großen Unterschiede feststellen: Als
Prophylaktika verhindern sie rund 60% der Influenza-A-Erkrankungen. Asymptomatische Infektionen werden dagegen nicht beeinflusst. Einzig für
Amantadin ist ein gewisser Schutz auch vor grippeähnlichen Erkrankungen insgesamt belegt (Schutzrate 25%, 95% Konfidenzintervall 13-36).
Therapeutisch bei Virusgrippe angewendet verkürzen Amantadin und Rimantadin die Fieberdauer um einen Tag. Dies entspricht in etwa dem Effekt,
der von Neuraminidasehemmern bekannt ist (vgl. a-t 2005; 36: 62-3, 2002;
33: 98-9). Direkt vergleichen lässt sich der Nutzen der beiden Wirkstoffgruppen in dieser Analyse allerdings nicht, da die Ergebnisse für
Neuraminidasehemmer aus methodischen Gründen - unanschaulich - als Hazard Ratio (HR) dargestellt werden (HR 1,30 [Oseltamivir] bzw. 1,28 [Zanamivir]).*
Ein für die Autoren entscheidender Punkt ist die Beeinflussung der nasalen Viruskonzentration: Während sich nach fünftägiger Anwendung
weder für Amantadin noch für Rimantadin ein Effekt auf die Virusausscheidung mit dem Nasensekret bzw. die Persistenz der Erreger in den Atemwegen
nachweisen lässt, senken Neuraminidasehemmer die mittleren nasalen Virustiter, gemessen 24 Stunden und 48 Stunden nach Randomisierung. Vor allem bei
prophylaktischer Anwendung kommt es unter Amantadin zudem deutlich häufiger als in den Kontrollgruppen zu Übelkeit und anderen gastrointestinalen
Störwirkungen, Schlafstörungen, Halluzinationen und Therapieabbrüchen wegen unerwünschter Effekte. Unter prophylaktischer Einnahme von
Oseltamivir wird signifikant häufiger Übelkeit beobachtet (JEFFERSON, T. et al.: Lancet 2006, 367: 303-13/ati d). Die systematische Übersicht weist
einige methodische Mängel auf. So werden beispielsweise auch Studien einbezogen, von denen unklar ist, ob sie tatsächlich randomisiert sind. Auch
werden verschiedene, zum Teil nicht zugelassene Dosierungen gemeinsam ausgewertet. Ob der von den Autoren hervorgehobene Unterschied in der Beeinflussung
nasaler Viruskonzentrationen, die zu verschiedenen Zeitpunkten gemessen werden, tatsächlich vorhanden und zudem klinisch relevant im Sinne einer
verringerten Infektiosität ist, bleibt offen. Auch die vermeintlich bessere Verträglichkeit von Oseltamivir lässt sich erst bei breiterer Anwendung
zuverlässig beurteilen, wie die kürzlich bekannt gewordenen Verdachtsberichte über neuropsychiatrische Effekte und Selbsttötungstendenzen
zeigen ( a-t 2005; 36: 113-4), -Red.
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Dargestellt wird die Zeit bis zur Linderung der Beschwerden. HR > 1 bedeutet einen Vorteil für die
Behandlungsgruppe. |
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