Als langjähriger Bezieher des a-t bin ich verwirrt von einem Leserbrief von Prof. J. M. WENDERLEIN im Deutschen
Ärzteblatt.1 In ihm wird Hormonersatz als Königsweg zur Demenzprävention dargestellt und zudem eine Senkung der Gesamtmortalität
bei Patientinnen unter 60 Jahren bis zu 40% behauptet. Die Bewertung der WHI-Studie durch das a-t lautete völlig anders...
Dr. P. von HESSLING (Facharzt für Radiologie)
D-86633 Neuburg
Interessenkonflikt: keiner
Zur Prophylaxe dementiver Erkrankungen liegen negative Langzeitdaten aus Substudien2-5 der randomisierten kontrollierten WHI*-Studie vor.
Nach einer 2004 veröffentlichten Auswertung4 erhielten 4.532 Patientinnen zwischen 65 und 79 Jahren konjugierte Östrogene plus Gestagen
oder Plazebo. Parallel dazu wurden 2.947 Frauen nach Hysterektomie nur mit Östrogenen oder Plazebo behandelt. Nach durchschnittlich vier Jahren
entwickeln 1,8% unter der Kombination gegenüber 0,9% unter Plazebo eine "wahrscheinliche" Demenz (Hazard Ratio [HR] 2,05; 95%
Konfidenzintervall [CI] 1,21-3,48). Unter alleiniger Östrogenbehandlung steigt das Risiko numerisch (1,9% versus 1,3%; HR 1,49; 95% CI 0,83-2,66). Nach
Subgruppenanalysen scheinen Frauen mit Diabetes mellitus besonders gefährdet zu sein. Keine der ausgewerteten Subgruppen profitiert von einer
Hormonbehandlung. Diese Berechnungen sind wegen bekannter Probleme (multiples Testen) mit Zurückhaltung zu interpretieren. Gegen die Studien wird
angeführt, dass die Behandlung zu spät erfolgte, um wirksam zu sein.1 Ein Beweis für den immer wieder behaupteten Nutzen einer
Hormonbehandlung bei frühem Beginn der Prophylaxe fehlt jedoch.
Die vom Gynäkologen WENDERLEIN angesprochenen Metaanalysen, die eine 29%ige6 bzw. 34%ige7 Senkung des Demenzrisikos
erkennen lassen sollen, werten Kohorten- und Fall-Kontrollstudien aus, die ein erhebliches Fehlerpotenzial bergen. Sie reichen nicht als Nutzenbeleg aus, was die
Autoren der Metaanalysen selbst auch so einschätzen. WENDERLEIN bemüht darüber hinaus eine aktuelle Arbeit,8 derzufolge das Risiko
einer verschlechterten Gedächtnisleistung nach 15-jähriger Beobachtungszeit durch Hormontherapie um 64% reduziert sein soll. Es handelt sich dabei um
eine offen durchgeführte nachträgliche Befragung einer Auswahl ehemaliger Teilnehmerinnen aus vier Hormontherapie-Studien, also ebenfalls um eine
epidemiologische Untersuchung ohne Beweiskraft. Studienabbrecherinnen werden nicht berücksichtigt. Es werden nicht einmal Ausgangswerte zum kognitiven
Status bei Beginn der Hormontherapie erhoben.
Das oft strapazierte Argument einer Senkung der Gesamtmortalität (s.a. a-t 2002; 33: 81-3), laut
WENDERLEIN "bis zu 40% bei bis 60-Jährigen", wird mit einer metaanalytischen Auswertung von Hormontherapie-Studien mit 4.000 Frauen
begründet.9 Auch diese Daten halten jedoch einer Überprüfung nicht stand: Der größte Anteil der in der Metaanalyse
ausgewerteten Todesfälle (73 von 130) stammt aus einer kleinen Untersuchung zu Hormonen bei Ovarialkarzinom mit 130 Patientinnen.10 Die Studie
wurde offen und mit unbehandelten Kontrollen durchgeführt. Zudem scheint die Randomisierung misslungen: Die unbehandelten Patientinnen sind
älter und haben höhergradige Erkrankungen mit schlechter differenzierten Tumoren, allesamt Indikatoren für ein höheres Mortalitätsrisko.
Werden nur verblindete randomisierte Studien mit mehr als 100 Frauen berücksichtigt, kehrt sich das Bild um: Unter Hormontherapie starben sieben, unter
Plazebo hingegen keine.11 Die im Wesentlichen auf Zahlen von Frauen mit Ovarialkarzinomen basierende Metaanalyse ist daher wertlos. Die Ergebnisse
werden zudem von WENDERLEIN unzulässig auf alle Frauen unter 60 Jahren ausgedehnt. Daten der WHI-Studie gehen dagegen nicht in die Analyse
mit ein, angeblich weil die Autoren keine isolierte Auswertung für diese Altersgruppe erhielten.
Schließlich ist das Heranziehen der WHI-Studie12 zur Östrogen-Monotherapie als Beleg für einen "Gefäßschutz" eine
Umkehrung der Studienergebnisse. Die Untersuchung, an der 10.739 Patientinnen zwischen 50 und 79 Jahren nach Hysterektomie teilnahmen, wurde vorzeitig
abgebrochen, da unter Hormonbehandlung nach durchschnittlich 6,8 Jahren Hirninsulte zugenommen haben. Die Herzinfarkthäufigkeit bleibt unbeeinflusst (HR
0,91; 95% CI 0,75-1,12). Die von WENDERLEIN postulierte 44%ige Senkung bezieht sich auf eine Subgruppenauswertung von 50 bis 59 Jahre alten Frauen. Er
unterlässt es jedoch mitzuteilen, dass der Unterschied statistisch nicht signifikant und zudem lediglich Teil einer mit größter Vorsicht zu
interpretierenden Subgruppenanalyse ist. Die in der Gesamtgruppe auch statistisch signifikant erhöhte Schlaganfallinzidenz (HR 1,39; 95% CI 1,10 bis 1,77) mit
einem "längerfristig dem Gehirn nützenden Gefäßschutz" zu vereinbaren, bedarf einer gewissen intellektuellen Robustheit.
Der Beitrag von M. WENDERLEIN ist ein Beispiel dafür, wie Meinungsbildner die
mittlerweile gut fundierte Datenlage zu den Risiken der Hormontherapie verschleiern und negieren.
Durch Heranziehen methodisch fragwürdiger Studien wird weiterhin ein angeblicher
Nutzen einer Hormonbehandlung propagiert (siehe auch a-t 2005; 36: 69-71).
| | (M = Metanalyse, R = randomisierte
Studie)
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| 1 | WENDERLEIN, J.M.: Dtsch. Ärztebl.
2005; 102: A2522 |
R | 2 | SHUMAKER, S.A.
et al.: JAMA 2003; 289: 2651-62 |
R | 3 | RAPP, S.R. et al.: JAMA
2003; 289: 2663-72 |
R | 4 | SHUMAKER, S.A. et al.:
JAMA 2004; 291: 2947-58 |
R | 5 | ESPELAND, M.A. et al.:
JAMA 2004; 291: 2959-68 |
| 6 | YAFFE, K. et al.: JAMA 1998; 279: 688-
95 |
| 7 | NELSON, H.D. et al.: JAMA 2002; 288:
872-81 |
| 8 | BAGGER, Y.Z. et al.: Menopause 2005;
12: 12-7 |
M | 9 | SALPETER, S.R.: J.
Gen. Intern. Med. 2004; 19: 791-804 |
R | 10 | GUIDOZZI, F., DAPONTE, A.: Cancer 1999; 86: 1013-8 |
| 11 | GRANT, E.C.G.: J. Gen. Intern. Med.
2005; 20: 212 |
R | 12 | WHI Steering
Committee: JAMA 2004; 291: 1701-12 |
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WHI = Women's Health Initiative |
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