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Im Blickpunkt

KURZWIRKSAME INSULINANALOGA BEI TYP-2-DIABETES

Folgt man den Firmen und ihren Meinungsbildnern, dann scheint das Konzept, das den kurzwirksamen Insulinanaloga Lispro (HUMALOG), Aspart (NOVORAPID) und Glulisin (APIDRA) zugrunde liegt, plausibel zu sein. Die Veränderungen am Insulinmolekül bewirken eine raschere Absorption und somit einen rascheren Wirkeintritt und eine kürzere Wirkdauer nach Subkutaninjektion. Das pharmakokinetische Profil der Kunstinsuline ist dem Verlauf der physiologischen Insulinsekretion bei einer Mahlzeit etwas ähnlicher als das des Humaninsulins (ACTRAPID u.a.), zumindest in U-100-Konzentration*. Dies könnte theoretisch die Stoffwechselkontrolle verbessern oder das Unterzuckerungsrisiko senken. Hauptargument der Anbieter ist aber, dass Insulinanaloga angeblich eine flexiblere Lebensführung ermöglichen, weil auf einen fixen Spritz-Ess-Abstand verzichtet werden könne (Werbung: "Flexibel mit APIDRA: Das schnelle Mahlzeiteninsulin"1).

In patientenrelevante Vorteile, die durch aussagefähige Daten belegt sind, ließ sich das Konzept bislang nicht übersetzen (a-t 2004; 35: 61 und 2005; 36: 3).2 Jetzt hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) die Frage eines zusätzlichen Nutzens kurzwirksamer Insulinanaloga im Vergleich zu Humaninsulin bei Typ-2-Diabetes bewertet. Die Bewertung stützt sich auf randomisierte kontrollierte Studien von mindestens sechsmonatiger Dauer, für die vollständige, also beurteilbare Daten vorliegen: fünf Studien mit insgesamt 858 Patienten zu Lispro und zwei mit insgesamt 1.766 Patienten zu Glulisin, keine zu Aspart. All Studien sind offen durchgeführt worden, sie dauern maximal zwölf Monate.3

Die Blutzuckereinstellung, gemessen am HbA1c, wird nur in einer Studie unter dem Analogpräparat Glulisin als signifikant besser beschrieben als unter Humaninsulin. Der Unterschied von 0,16% einschließlich des 95%igen Konfidenzintervalls von 0,05% bis 0,26% liegt jedoch unterhalb der in der Studie selbst festgelegten Grenze für eine klinische Relevanz von 0,4%. Im Hinblick auf die Gesamtrate der Unterzuckerungen ergeben sich keine signifikanten Vorteile für die Insulinanaloga. Schwerwiegende (1,3% vs. 3,2%) und symptomatische nächtliche Hypoglykämien (9,1% vs. 14,5%) werden in einer Studie wiederum unter Glulisin seltener erfasst als unter Humaninsulin, im Hinblick auf die nächtlichen Unterzuckerungen gilt dies allerdings nur für die zweite Studienhälfte. Neben der offenen Durchführung der Studie sprechen verschiedene weitere Umstände dagegen, dass dieser Befund auf Stoffeigenschaften zurückzuführen ist: In der Glulisingruppe ist die Zahl der Patienten mit fehlenden Angaben höher (5% vs. 2%). Zwei Patienten dieser Gruppe werden wegen rezidivierender, zum Teil schwerwiegender Hypoglykämien vorzeitig ausgeschlossen und gehen offensichtlich nicht vollständig in die Analyse ein. Im Hinblick auf symptomatische nächtliche Hypoglykämien bestand bereits vor Randomisierung ein auffälliger Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen, der sich im Studienverlauf aber annähert. Und schließlich ist die Intensität der Blutzuckersenkung, ohne deren Kenntnis Daten zu Hypoglykämien nicht interpretiert werden können, im Studienverlauf unter Humaninsulin im Mittel stärker als unter Glulisin.3

Zur Lebensqualität und Therapiezufriedenheit liegen Daten aus drei Studien vor. Ausgewertet wird jeweils nur ein Teil der Studienpatienten. In der einzigen Studie, in der sich ebenfalls durch das Analog Glulisin angeblich größere Therapiezufriedenheit erzielen lässt, sind bei Studienende Angaben nur noch von einem Teil der befragten Subgruppe vorhanden und damit nur von etwa 60% der ursprünglich randomisierten Patienten. Valide Aussagen sind bei dieser starken Selektion, noch dazu vor dem Hintergrund, dass die Studie offen durchgeführt wurde, nicht möglich. Signifikante Unterschiede in der Gewichtszunahme zeigen sich nicht.3

Überzeugende Nachweise für einen Zusatznutzen kurzwirksamer Insulinanaloga gegenüber Humaninsulin bei Typ-2-Diabetes findet das IQWiG somit nicht. Der angebliche Vorteil eines fehlenden Spritz-Ess-Abstandes ist nicht durch Studien belegt: Weder ist für Analoga nachgewiesen, dass ein Abstand gar nicht benötigt wird, noch ist bei Humaninsulin ein fixer Abstand von 30 bis 45 Minuten durch Studien begründet.3 Er wird wegen der Hypoglykämiegefahr in der intensivierten Insulintherapie auch gar nicht empfohlen.4 In einer belgischen Studie hat die Einhaltung eines Spritz-Ess- Abstands bei Typ-1-Diabetikern, die Humaninsulin verwenden, keine signifikante Auswirkung auf die Blutzuckerkontrolle.5 Adäquate Vergleiche von Analoga mit Humaninsulin, in denen beide ohne oder mit verkürztem Spritz-Ess-Abstand geprüft werden, fehlen. Auch fehlen Vergleiche mit U-40- Humaninsulin, das ebenfalls rascher absorbiert wird als das höher konzentrierte U-100. Langzeitinterventionsstudien, die den Einfluss der Kunstinsuline auf diabetische Folgeerkrankungen oder Mortalität prüfen, gibt es gar nicht. Sicherheitsbedenken wegen potenziell erhöhter Mitogenität oder Kanzerogenität von Insulinanaloga sind nach wie vor nicht ausgeräumt.3

Die Bewertung des IQWiG ist auf heftige Kritik von Seiten der Hersteller und herstellernaher Experten gestoßen. Ein zentraler vielfach wiederholter Vorwurf ist, dass sich das IQWiG ausschließlich auf randomisierte kontrollierte Studien stützt. Dies reiche für die Beurteilung des Nutzens nicht aus. Randomisierte kontrollierte Studien würden unter "Idealbedingungen" durchgeführt und hätten daher "nichts mit dem Alltag in Arztpraxen, also der Versorgungsrealität, zu tun".6 Studien, die über die Vorteile der Insulinanaloga in der täglichen Versorgung Auskunft geben könnten, habe das Institut nicht berücksichtigt.7 Die Kritik zielt auf das Problem der Übertragbarkeit der Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien auf den Behandlungsalltag, die insbesondere dann infrage gestellt sein kann, wenn durch strenge Ein- und Ausschlusskriterien die Studienteilnehmer nicht mehr repräsentativ sind für die typischen Patienten in der Arztpraxis. Anders als die Kritiker unterstellen, sind "Idealbedingungen" jedoch keine unvermeidlichen Voraussetzungen für randomisierte kontrollierte Studien. Abgesehen davon, dass im ärztlichen Alltag nicht randomisiert oder doppelblind therapiert wird, können diese Studien ganz praxisnah durchgeführt werden. Alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Insulinanaloga derzeit diskutiert werden, wie die der Lebensqualität oder der Häufigkeit von Unterzuckerungen, lassen sich in randomisierten kontrollierten doppelblinden Studien prüfen.3

Randomisierung ist aber umgekehrt das einzige verfügbare Instrument in der klinischen Forschung, das einigermaßen zuverlässige Aussagen über einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Intervention und einem Effekt ermöglicht. Die Zuteilung zu einer geprüften Therapie nach dem Zufallsprinzip soll gewährleisten, dass sich andere bekannte und unbekannte Faktoren, die das interessierende Ergebnis beeinflussen können (so genannte Störgrößen oder confounder), zwischen den Vergleichsgruppen nicht systematisch unterscheiden. Bei Beobachtungsstudien, wie sie jetzt von der Industrie und industrienahen Meinungsbildnern ins Spiel gebracht werden, lässt sich dies nicht ausschließen.8-10 So gab es lange vor der Publikation der randomisierten WHI**-Studie zu Hormonen nach den Wechseljahren den Verdacht, dass die in Observationsstudien beobachteten Vorteile im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen durch einen so genannten Healthy-user-Effekt zu Stande kommen, dass es also von vornherein gesündere Frauen sind, die Hormone einnehmen (a-t 1999; Nr. 10: 110-1). Mit der Publikation der WHI-Studie wurde dann deutlich, zu welchen verhängnisvollen Fehlschlüssen es führen kann, wenn aus Beobachtungsstudien Aussagen über den Nutzen einer Therapie abgeleitet werden. Beobachtungsstudien können sinnvolle Ergänzungen randomisierter kontrollierter Studien darstellen, etwa zu Fragen seltener Nebenwirkungen oder der Anwendungspraxis.8-11 Hinreichend zuverlässige Aussagen über den Nutzen einer Behandlung sind nur im Ausnahmefall möglich, wenn die Prognose unbehandelter Patienten sicher schlecht ist und der Effekt einer Intervention groß, beispielsweise bei der Therapie des diabetischen Komas ("All or none"-Prinzip). Bei den üblichen kleinen und mäßigen Effekten in der Behandlung chronischer Erkrankungen lässt sich in Beobachtungsstudien der Einfluss einer Intervention von dem potenzieller Störgrößen nicht sicher unterscheiden.8-10 Wenn es selbst unter den Bedingungen randomisierter kontrollierter Studien nicht gelingt, einen Vorteil der Insulinanaloga nachzuweisen, welche unverzerrten Effekte sollten dann in Beobachtungsstudien erkennbar sein?

  Aus randomisierten kontrollierten Studien lässt sich kein überzeugender Beleg für einen Vorteil von kurzwirksamen Insulinanaloga wie Lispro (HUMALOG) im Vergleich mit Humaninsulin bei Typ-2-Diabetes mellitus ableiten.

  Andere Untersuchungen, wie die von Herstellern angeführten Beobachtungsstudien, sind aus methodischen Gründen zur Nutzenbewertung bei dieser Fragestellung ungeeignet.

  Sicherheitsbedenken wegen potenziell erhöhter Mitogenität oder Kanzerogenität der Insulinanaloga bestehen weiter.

  Der angebliche Vorteil eines fehlenden Spritz-Ess-Abstandes unter Insulinanaloga ist ein Marketingargument. Ein Spritz-Ess-Abstand wird in der intensivierten Insulintherapie auch für Humaninsulin längst nicht mehr empfohlen.

  Wir sehen keinen Grund für die Verordnung der gegenüber Humaninsulin rund 30 % teureren Kunstinsuline bei Typ-2-Diabetes.

 

 

(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)

 

1

Sanofi Aventis: Werbung für APIDRA, Ärzte Ztg. vom 20. März 2006

M

2

SIEBENHOFER, A. et al.: Short acting insulin analogues versus regular human insulin in patients with diabetes mellitus. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2006, Issue 1; Stand 25. Aug. 2004

 

3

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Kurzwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2, Abschlussbericht; Stand 15. Dez. 2005

 

4

MÜHLHAUSER, I. et al.: in: BERGER, M. (Hrsg.): "Diabetes melltus", 2. Auflage, Urban & Fischer, München, Jena 2000, Seite 287-325

R

5

SCHEEN, A.J. et al.: Diabetes Metab. 1999; 25: 157-62

 

6

Ärzte Ztg. vom 27. Febr. 2006

 

7

Sanofi-Aventis: Stellungnahme vom 2. März 2006; http://www.sanofi-aventis.de/index.html

 

8

KUNZ, R. et al.: Randomisation to protect against selection bias in healthcare trials. The Cochrane Database of Methodology Reviews. 2006, Issue 1; Stand 3. Juni 2002

 

9

COLLINS, R., MACMAHON, S.: Lancet 2001; 357: 373-8

 

10

MACMAHON, S., COLLINS, R.: Lancet 2001; 357: 455-62

 

11

PIGEOT, I., WINDELER, J.: Bundesgesundheitsbl. Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz 2005; 48: 580-5

*

Anzahl der Insulineinheiten pro Millimeter: 40 E/ml = U40, 100 E/ml = U100

**

WHI = Women's Health Initiative

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Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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