STRIKTE BLUTZUCKERKONTROLLE BEI KRITISCH KRANKEN: GEFAHREN ÜBERWIEGEN
Im Jahr 2001 wird in einer größeren, in einem einzelnen belgischen Zentrum durchgeführten randomisierten Studie der Blutzucker von chirurgischen Intensivpatienten, die nicht an Diabetes mellitus leiden, mittels Insulin streng eingestellt. Die Krankenhausmortalität sinkt in der Folge um ein Drittel (a-t 2001; 32: 115-6).1 Die Ergebnisse führen dazu, dass zahlreiche Organisationen wie die Amerikanische Diabetesgesellschaft2 oder das Institute for Healthcare Improvement3 bis heute für alle Intensivpatienten eine strenge Einstellung der Blutzuckerwerte mit Insulin empfehlen.4 Befunde nachfolgender Studien zu dieser Strategie deuten jedoch darauf hin, dass eine Normalisierung der Blutzuckerwerte die Mortalität zumindest bei internistischen Intensivpatienten nicht verbessert, aber eine deutliche Häufung schwerer Hypoglykämien nach sich zieht (a-t 2006; 37: 73-4). Zu dem Thema sind aktuell weitere Untersuchungen publiziert.
Ein umfassendes, methodisch valide durchgeführtes Review aus dem Jahre 2008 trägt die Ergebnisse von 29 randomisierten Studien zusammen, an denen insgesamt 8.432 Erwachsene teilgenommen haben.5 In den Interventionsgruppen der Studien werden Blutzuckerwerte in Bereichen zwischen 72 mg/dl und 144 mg/dl angestrebt, in den Kontrollgruppen wird Insulin meist erst ab Werten um 180 mg/dl verabreicht. Die Krankenhausmortalität wird im Gesamtkollektiv der Übersicht nicht signifikant beeinflusst (Relatives Risiko [RR] 0,93). Dies trifft in separaten Analysen auch für Studien zu, die nur chirurgische, nur internistische oder chirurgische und internistische Intensivpatienten einschließen, wie auch für diejenigen, die eine sehr strenge Blutzuckerkontrolle mit Werten bis maximal 110 mg/dl oder eine weniger strenge mit Werten unter 150 mg/dl als Ziel vorgeben. Neun Studien untersuchen auch die Rate an Septikämien: Sie wird durch die Blutzuckerkontrolle vermindert (RR 0,76; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,59-0,97). Der Effekt kommt jedoch nur durch die chirurgischen Intensivpatienten (RR 0,54; 95% CI 0,38-0,76) zustande. Unabhängig vom Patientenkollektiv und der Strenge der Blutzuckerkontrolle nehmen Hypoglykämien mit Blutzuckerwerten bis 40 mg/dl deutlich zu (RR zwischen 3,65 und 5,37). Die Autoren fordern eine Korrektur der aktuellen Leitlinien.5
Anfang 2009 wird die lang erwartete multizentrische randomisierte NICE-SUGAR*-Studie publiziert, an der 6.104 erwachsene Patienten teilnehmen, die für voraussichtlich mindestens drei Tage auf eine chirurgische oder internistische Intensivstation aufgenommen werden müssen.6 In der Interventionsgruppe wird ein Blutzucker zwischen 81 mg/dl und 108 mg/dl angestrebt, ggf. mit intravenösen Insulininfusionen. In der Kontrollgruppe wird Insulin erst ab Werten von 180 mg/dl gegeben. Die prognostischen Parameter beider Gruppen unterscheiden sich nicht. Bei 20% ist ein Diabetes bekannt, 37% sind chirurgische Patienten. Über die Zeit gemittelt liegen die Blutzuckerwerte in der Interventionsgruppe bei 115 mg/dl und in der Kontrollgruppe bei 144 mg/dl (p < 0,001). Innerhalb von 90 Tagen sterben signifikant mehr Patienten in der Gruppe mit strenger Blutzuckerkontrolle (27,5% vs. 24,9%; Odds Ratio [OR] 1,14; 95% CI 1,02-1,28, p = 0,02). Insbesondere kardiovaskuläre Todesfälle sind häufiger (41,6% vs. 35,8%; p = 0,02). Die Übersterblichkeit ist bei chirurgischen Patienten eher deutlicher (OR 1,31; 95% CI 1,07-1,61). Ansonsten sind keine Subgruppeneffekte zu sichern. Unter der strengen Blutzuckerkontrolle werden mehr Patienten mit Glukokortikoiden behandelt als in der konventionell therapierten Gruppe (34,6% vs. 31,7%; p = 0,02). Häufigster Grund ist ein septischer Schock, der in der Interventionsgruppe zumindest numerisch häufiger ist. Hinweise für eine Reduktion von Septikämien bieten sich jedenfalls nicht. Schwere Hypoglykämien bis 40 mg/dl sind unter der strengen Blutzuckerkontrolle deutlich häufiger (6,8% vs. 0,5%; OR 14,7; 95% CI 9,0-25,9), ein sicherer Zusammenhang mit den vermehrten Todesfällen lässt sich aber nicht herstellen.6
* | NICE-SUGAR = Normoglycemia in Intensive Care Evaluation-Survival Using Glucose Algorithm Regulation |
Die neueste systematische Übersicht7 zum Thema erfasst auch die Daten der NICE-SUGAR-Studie. Der Pool der übrigen 25 randomisierten Studien ist wegen unterschiedlicher Selektionskriterien nicht komplett identisch mit dem des Reviews von 2008.5 Insgesamt werden die Daten von 13.567 Patienten ausgewertet. Die Mortalität nach 90 Tagen wird durch strenge gegenüber konventioneller Blutzuckerkontrolle nicht signifikant vermindert (RR 0,93; 95% CI 0,83-1,04). Das Ergebnis ist auch in diesem Review unabhängig von den Blutzuckerwerten, die in den Interventionsgruppen der Studien angestrebt werden (bis 110 mg/dl oder bis 150 mg/dl). Werden nur Studien mit internistischen bzw. mit internistischen und chirurgischen Patienten ausgewertet, ist die Sterblichkeit in beiden Gruppen identisch (RR 1,00 bzw. 0,99). Bei separater Analyse der fünf Studien mit chirurgischen Intensivpatienten zeigt sich dagegen eine signifikante Mortalitätsreduktion (RR 0,63; 95% CI 0,44-0,91). Hierbei wird jedoch die Subgruppe der chirurgischen Patienten aus der NICE-SUGAR-Studie, die mehr Patienten umfasst (2.233) als die fünf chirurgischen Studien zusammen (1.972), nicht mit analysiert. Bei Berücksichtigung dieser Subgruppe wäre die Mortalität nach Berechnungen der Redaktion auch für chirurgische Patienten gleich. Schwere Hypoglykämien mit Blutzuckerwerten bis 40 mg/dl sind im Gesamtkollektiv auch in dieser Übersicht unter der strengen Stoffwechselkontrolle deutlich häufiger (RR 5,99; 95% CI 4,47-8,03).7
Aus dem erwähnten belgischen Zentrum stammt die Publikation einer weiteren randomisierten Studie, die eine strenge Blutzuckerkontrolle mit einer konventionellen bei 700 Kindern vergleicht, die auf eine Intensivstation aufgenommen werden.8 Zu über 85% sind es chirurgische Patienten, zu 75% kardiochirurgische. Beim strengen Blutzuckerregime werden für Kinder unter einem Jahr Werte zwischen 50-79 mg/dl, für ältere Werte zwischen 70-100 mg/dl als Ziel vorgegeben. Bei konventioneller Therapie ist Insulin erst ab Werten von 214 mg/dl vorgesehen. Primär wird der Einfluss auf das C-reaktive Protein untersucht. Es nimmt bei strenger Blutzuckerkontrolle signifikant stärker ab (p < 0,007). Von insgesamt sechs klinischen Parametern werden zwei signifikant beeinflusst: Die mittlere Liegezeit auf der Intensivstation nimmt unter strenger Blutzuckerkontrolle um 0,6 Tage ab (p = 0,017), die Zahl der Kinder mit sekundären Infektionen von 36,8% auf 29,2% (p = 0,034). Die als Sicherheitsparameter erfasste Mortalität während der Behandlung auf der Intensivstation wird halbiert (5,7% vs. 2,6%; p = 0,038). Auch in dieser Studie nehmen Hypoglykämien bis 40 mg/dl deutlich (1,4% vs. 24,9%, p < 0,0001), solche unter 30 mg/dl relevant zu (0,9% vs. 4,9%; p = 0,001). Die Autoren selbst halten eine Bestätigung und Klärung der Relevanz der Ergebnisse für notwendig.8
Die in Editorials4,9,10 vermuteten Gründe für die insgesamt enttäuschenden Ergebnisse sind vielfältig, überzeugen inhaltlich jedoch wenig. Tatsache bleibt, dass die Ergebnisse einer Einzelstudie, die zudem monozentrisch, vorwiegend an kardiochirurgischen Patienten und mit einem differenzierten Therapieregime durchgeführt wurde, vorschnell verallgemeinert wurden. Sie waren Anlass für weitreichende Empfehlungen in intensivmedizinischen Leitlinien, die bei der aktuellen Datenlage nicht mehr haltbar sind. Ob eine strenge Blutzuckerkontrolle bei speziellen Kollektiven kritisch kranker Patienten, sorgfältiger Überwachung und Verwendung differenzierter Regime von Nutzen ist, kann nur durch weitere Studien geklärt werden.
Eine strenge Blutzuckerkontrolle mit Insulin und Zielwerten zwischen 70 mg/dl und 140 mg/dl verbessert nach derzeitigem Kenntnisstand die Prognose von kritisch Kranken nicht.
In der bisher größten randomisierten Studie zur Klärung des Stellenwertes steigt die Mortalität unter strenger Einstellung, auch bei chirurgischen Intensivpatienten.
Es kommt zu einer deutlichen Häufung schwerer Hypoglykämien.
Die weitere Anwendung der Therapiestrategie bei Intensivpatienten erscheint uns außerhalb von Studien derzeit nicht mehr vertretbar.
(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | ||
R | 1 | Van den BERGHE, G. et al.: N. Engl. J. Med. 2001; 345: 1359-67 |
2 | American Diabetes Association: Diabetes Care 2008; 31 (Suppl. 1): S12-S54 | |
3 | Institute for Healthcare Improvement: http://www.ihi.org/IHI/Topics/CriticalCare/IntensiveCare/Changes/ImplementEffectiveGlucoseControl.htm (Zugriff 2. Mai 2009) | |
4 | FINFER, S., DELANEY, A.: JAMA 2008; 300; 963-5 | |
M | 5 | WIENER, R.S. et al.: JAMA 2008; 300: 933-44 |
R | 6 | The NICE-SUGAR Study Investigators: N. Engl. J. Med. 2009; 360: 1283-97 |
M | 7 | GRIESDALE, D.E.G. et al.: CMAJ 2009; 180: 821-7 |
R | 8 | VLASSELAERS, D. et al.: Lancet 2009; 373: 547-56 |
9 | Van den BERGHE, G. et al.: CMAJ 2009; 180: 799-800 | |
10 | INZUCCHI, S.E., SIEGEL, M.D.: N. Engl. J. Med. 2009; 360: 1346-9 |
© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 15. Mai 2009
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