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Nebenwirkungen

KIEFERNEKROSEN UNTER ORALEN BISPHOSPHONATEN: RISIKO 1 ZU 1.000?

Osteonekrosen des Kiefers, die vor allem in Verbindung mit intravenösen Bisphosphonaten bei Krebspatienten beschrieben werden, scheinen unter oralen Bisphosphonaten häufiger vorzukommen als bisher angenommen (vgl. a-t 2007; 38: 99-101 und 2009; 40: 16). Nach bisherigen Schätzungen vor allem aus Deutschland und Australien soll die Prävalenz zwischen 1 pro 100.000 und 1 pro 10.000 Anwender liegen.1-3 Die deutschen Daten2 beruhen aber auf Spontanmeldungen, die für Häufigkeitsschätzungen bekanntermaßen ungeeignet sind.

Nach der aktuell publizierten PROBE*-Studie,3 der größten Kohortenstudie mit systematischer Erhebung zu dieser Frage, liegt die Häufigkeit einer Kiefernekrose unter oralen Bisphosphonaten bei 1 pro 952 Anwender. In der sorgfältig durchgeführten Studie werden 13.946 Mitglieder einer großen kalifornischen Krankenversicherung zwischen 21 und 90 Jahren, die mindestens ein Jahr lang Aminobisphosphonate per os eingenommen, aber keine Therapie mit intravenösen Bisphosphonaten, keine HIV-Infektion und keine Tumoren der Mundhöhle in der Vorgeschichte haben, schriftlich oder telefonisch befragt, unter anderem zu Beschwerden oder Symptomen der Zähne und Mundhöhle. Die Beschwerden müssen zum Zeitpunkt der Befragung bestehen oder im Jahr davor mindestens einen Monat lang angehalten haben. Denen, die über entsprechende Beschwerden berichten, wird eine gründliche Untersuchung durch geschulte Zahnärzte angeboten. Nicht untersuchte Betroffene werden um Erlaubnis der Einsicht in ihre dentale Krankenakte gebeten. Alle Befunde, die für eine Kiefernekrose sprechen, werden von einem Kieferchirurgen überprüft. Der Diagnose einer Bisphosphonat-assoziierten Kiefernekrose wird die Definition der amerikanischen Gesellschaft für Kieferchirurgie (AAOMS**4) zu Grunde gelegt (Behandlung mit Bisphosphonaten, länger als acht Wochen lang freiliegender Kieferknochen, keine Bestrahlung im Bereich des Kiefers).3 Eine Kontrollgruppe ohne Bisphosphonattherapie fehlt. Kiefernekrosen waren aber vor der Ära der Bisphosphonate selten und wurden damals hauptsächlich in Verbindung mit Bestrahlung beobachtet,5 die hier ausgeschlossen wurde.

* PROBE = Predicting Risk of Osteonecrosis of the Jaw with oral Bisphosphonate Exposure
** AAOMS = American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons

8.572 (62%) der Befragten antworten. 93% dieser Gruppe sind Frauen, das mittlere Alter ist 71 Jahre, meistverwendetes Bisphosphonat (99%) ist Alendronat (FOSAMAX, Generika). Bei 1.005 Studienteilnehmern, die über Beschwerden berichten, werden Mund und Zähne untersucht, bei 536 weiteren die Krankenakten überprüft. Auf diesem Wege werden bei 9 Patienten Kiefernekrosen im Stadium 1 bis 2*** festgestellt (Prävalenz 0,10%, 95% Konfidenzintervall 0,05%-0,20%). Bei der Mehrzahl (7 von 9) geht der Schädigung eine vier bis sechs Jahre dauernde Bisphosphonateinnahme voraus. Bei zweien entwickelt sie sich nach 2,6 bzw. 3 Jahren. Die Prävalenz der Kiefernekrosen steigt von 0,04% bei unter vierjähriger Anwendung auf 0,21% bei längerer Therapie. Bei vier Patienten, von denen einer langfristig auch Glukokortikoide angewendet hat, hat sich die Kiefernekrose nach Zahnextraktion entwickelt, bei fünf Patienten spontan, darunter bei dreien im Bereich so genannter Gaumenwülste (Tori palatini),3 die wie die Zahnextraktion als Risikofaktor gelten.4 Obwohl alle die Bisphosphonate abgesetzt haben, ist die Läsion bei fünf Betroffenen im Nachbeobachtungszeitraum von einem Jahr nicht abgeheilt.3

*** Stadieneinteilung der Bisphosphonat-assoziierten Kiefernekrose (nach AAOMS): Stadium 1 = freiliegender und nekrotischer Kieferknochen ohne Beschwerden oder Zeichen der Infektion, Stadium 2 = freiliegender und nekrotischer Kieferknochen mit Schmerzen und Infektionszeichen, Stadium 3 = freiliegender Kieferknochen mit Schmerzen, Infektion und mindestens einem weiteren Befund wie extraorale Fistel u.a., neuerdings auch Stadium 0 = kein Hinweis auf nekrotischen Knochen, aber unspezifische, nicht durch Zahnerkrankungen erklärbare Befunde wie Schmerzen oder Zahnlockerung.4

∎  Das Risiko einer Kiefernekrose unter oralen Bisphosphonaten könnte nach Daten einer aktuellen, allerdings unkontrollierten Kohortenstudie bei 1: 1.000 Anwendern liegen.

∎  Die Studie bestätigt frühere Hinweise, dass das Risiko mit der Therapiedauer zunimmt: Bei mindestens vierjähriger Einnahme liegt es danach bei 1 : 500.

∎  Die Indikation für orale Bisphosphonate ist streng zu stellen: Bei postmenopausaler Osteoporose kommen sie unseres Erachtens nur bei vorbestehenden Wirbelbrüchen und hohem Progressionsrisiko in Betracht.

∎  Die Therapie bei postmenopausaler Osteoporose ist auf drei Jahre zu begrenzen, da für eine längere Therapie Nutzenbelege fehlen, das Risiko einer Kiefernekrose aber zunimmt.

∎  Die Patienten sollen vor der Therapieentscheidung über die neuen Risikodaten aufgeklärt werden.

∎  Vor Beginn der Therapie sollen generell Mundhöhle und Zähne untersucht und gegebenenfalls saniert werden.

 1MAVROKOKKI, T. et al.: J. Oral Maxillofac. Surg. 2007; 65: 415-23
 2Dtsch. Ärztebl. 2006; 103: A3078-80
 3LO, J.C. et al.: J. Oral Maxillofac. Surg. 2009; online publiziert am 3. Juli 2009
 4American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons: Position Paper on Bisphosphonate-Related Osteonecrosis of the Jaw - 2009 Update, Jan. 2009
http://www.aaoms.org/docs/position_papers/bronj_update.pdf
 5BAMIAS, A. et al.: J. Clin. Oncol. 2005; 23: 8580-7

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 9. Oktober 2009

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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