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Nebenwirkungen

ROTAVIRUS-IMPFSTOFF ROTARIX: ERHÖHTES RISIKO VON INVAGINATIONEN?

Die Rotavirus-Impfstoffe ROTARIX und ROTATEQ wurden vor ihrer Zulassung in zwei umfangreichen Sicherheitsstudien mit jeweils mehr als 60.000 Säuglingen geprüft, da zuvor eine andere Vakzine gegen Rotaviren wenige Monate nach Markteinführung wieder zurückgezogen werden musste, nachdem ein erhöhtes Risiko von Invaginationen aufgefallen war. Keine der beiden Untersuchungen ließ eine erhöhte Gefährdung für dieses seltene lebensbedrohliche Ereignis erkennen, bei dem sich ein Darmabschnitt in einen anderen stülpt. Nach Einschätzung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA können aber selbst Studien dieser Größe ein solches Risiko nicht ausschließen (a-t 2008; 39: 111-4).

Vorläufige Daten aus zwei Postmarketingstudien weisen jetzt auf ein erhöhtes Invaginationsrisiko auch unter ROTARIX hin:1 In der von GlaxoSmithKline gesponserten PASS*-Studie werden in Krankenhäusern in Mexiko Invaginationen bei Kindern unter einem Jahr aktiv und prospektiv erfasst. Dabei fällt eine Häufung der bedrohlichen Komplikation innerhalb von 31 Tagen nach der ersten Dosis der Vakzine auf (primärer Endpunkt; Relatives Risiko 1,8; 99% Konfidenzintervall 1,0-3,1). Die Mehrzahl der Betroffenen erkrankt in den ersten sieben Tagen nach Immunisierung. Werden diese Daten auf die USA übertragen, wo die Inzidenz von Krankenhausaufnahmen wegen Invagination im ersten Lebensjahr 34/100.000 Säuglinge beträgt, entspräche dies bis zu vier zusätzlichen Hospitalisierungen pro 100.000 geimpfter Säuglinge innerhalb von 31 Tagen nach der ersten Impfung. Endgültige Daten der Untersuchung werden für 2011 erwartet.1-3

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet zudem über eine weitere Postmarketingstudie, die seit 2007 das Invaginationsrisiko unter ROTARIX in der Routineversorgung in Brasilien und Mexiko prüft. Nach einer Zwischenanalyse soll in Mexiko (in einer anderen Population als die der PASS-Studie), nicht aber in Brasilien, ebenfalls innerhalb von sieben Tagen nach der ersten Dosis eine Häufung von Krankenhausaufnahmen wegen der Komplikation aufgefallen sein. Die Rate ist in diesem Zeitraum vier- bis fünfmal höher als zu späteren Zeitpunkten nach der Impfung.1

In Australien lassen Postmarketingstudien insgesamt zwar weder für ROTARIX noch für ROTATEQ ein erhöhtes Invaginationsrisiko bei Kindern bis zum Alter von neun Monaten erkennen. Für beide Vakzinen gibt es aber Hinweise auf eine mögliche vorübergehende Zunahme der Komplikation in der ersten Woche nach Immunisierung, die allerdings auf relativ kleinen Zahlen basieren sollen.1

Die weltweit gemeldeten Spontanberichte deuten ebenfalls darauf hin, dass Invaginationen unter ROTARIX überwiegend innerhalb von sieben Tagen nach der ersten Dosis auftreten.3 Sollte sich das Risikosignal bestätigen, scheint die Gefährdung nach derzeitiger Datenlage aber niedriger zu sein als unter der zurückgezogenen Vakzine ROTASHIELD.1 Für diese hatten Studien neun zusätzliche Invaginationen/100.000 Impflinge ergeben,2 wobei das Risiko in den ersten beiden Wochen nach der ersten Dosis am größten gewesen sein soll.3 In den USA wurde ein Teil der neuen Risikodaten zu ROTARIX in die Produktinformation aufgenommen.3 Bei der EMA wird derzeit noch geprüft, ob eine Änderung der Fachinformation erforderlich ist.4 Das Paul-Ehrlich-Institut hat die Stellungnahme der WHO zum Anlass genommen, alle aus Deutschland gemeldeten Verdachtsfälle einer Invagination zu analysieren. Ein ausführlicher Bericht wird für die nächste Ausgabe des "Bulletin zur Arzneimittelsicherheit" angekündigt (voraussichtlich zweite Dezemberhälfte).5

Für ROTATEQ gibt es derzeit keine klaren Hinweise auf ein erhöhtes Invaginationsrisiko. Die Daten reichen allerdings nicht aus, um eine Gefährdung in der Größenordnung auszuschließen, wie sie in der PASS-Studie unter ROTARIX beobachtet wurde.2

In Europa wird eine generelle Impfung gegen Rotaviren bislang nur in Österreich, Belgien, Finnland und Luxemburg empfohlen. Andere Länder haben sich wegen der zu hohen Impfstoffpreise und des fehlenden Nachweises einer Kosten-Nutzen-Effektivität dagegen entschieden. Auch die Ständige Impfkommission (STIKO) hat die Rotavirus-Impfung bislang nicht in ihre Impfempfehlung aufgenommen. Nach Einschätzung der Kommission fehlen weiterhin wesentliche Daten zur Sicherheit der Impfstoffe und zur Krankheitslast. Anhaltspunkte für einen Nutzen im Hinblick auf mögliche Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen gebe es derzeit nicht, so die STIKO.6 Dennoch wird die Immunisierung in zunehmendem Umfang angewendet und von vielen Kassen bezahlt.

∎  Vor der Zulassung der beiden Rotavirus-Impfstoffe ROTARIX und ROTATEQ hatten zwei große Sicherheitsstudien kein erhöhtes Risiko von Invaginationen, Ursache der Marktrücknahme einer früheren Vakzine gegen Rotaviren, erkennen lassen. Ausschließen konnten sie ein solches Risiko aber auch nicht.

∎  Vorläufige Daten aus zwei Postmarketingstudien deuten jetzt darauf hin, dass der Rotavirus-Impfstoff ROTARIX das Risiko einer Invagination innerhalb von sieben bzw. 31 Tagen nach der ersten Dosis steigern könnte. In Spontanberichten wird die bedrohliche Komplikation ebenfalls überwiegend innerhalb der ersten Woche nach erstmaliger Immunisierung beschrieben.

∎  Auch für ROTATEQ gibt es Hinweise auf eine mögliche vorübergehende Zunahme von Invaginationen innerhalb von sieben Tagen nach der ersten Dosis. Die aus Postmarketingstudien vorliegenden Daten reichen derzeit nicht aus, um eine Gefährdung in der Größenordnung, wie sie für ROTARIX in der mexikanischen PASS-Studie beschrieben wird, auszuschließen.

∎  Wir halten die Immunisierung gegen Rotaviren hierzulande für entbehrlich.

1 WHO: Stellungnahme vom 22. Sept. 2010;
http://www.who.int/vaccine_safety/topics/rotavirus/rotarix_and_rotateq/intussusception_sep2010/en/
2 FDA: Information on ROTARIX, Questions and Answers vom 22. Sept. 2010
http://www.fda.gov/BiologicsBloodVaccines/Vaccines/ApprovedProducts/ucm226690.htm
3 GSK: US-amerikanische Produktinformation ROTARIX, Stand Sept. 2010
http://us.gsk.com/products/assets/us_rotarix.pdf
4 EMA: Schreiben vom 12. November 2010
5 Paul-Ehrlich-Institut: Schreiben vom 12. November 2010
6 STIKO: Epidem. Bull. 2010; Nr. 33: 335

* PASS = Post Authorization Safety Study (EU) bzw. Postmarketing Active Surveillance Study (USA); europäischer bzw. US-amerikanischer Terminus für Sicherheitsstudien nach der Zulassung

© 2010 arznei-telegramm, publiziert am 3. Dezember 2010

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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