AKUTE OTITIS MEDIA: ZUM NUTZEN VON ANTIBIOTIKA
Weltweit werden Antibiotika bei Otitis media im Kindesalter sehr unterschiedlich häufig verordnet. In Australien und den USA erhält fast jedes erkrankte Kind ein Antibiotikum, in den Niederlanden nur etwa jedes dritte.1 In Leitlinien wird oftmals zu einer zurückhaltenden Verschreibung geraten: bei nicht schwer Erkrankten watchful waiting, Verordnung bzw. Einnahme hier erst bei ausbleibender Verbesserung oder bei Verschlechterung innerhalb von drei Tagen.1,2 Diese Empfehlungen beruhen unter anderem auf Ergebnissen aus Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien, die einen günstigen Verlauf auch bei rein symptomatischer Therapie errechnen. Der mäßige zusätzliche Nutzen durch sofortige antibiotische Therapie wird mit Störwirkungen erkauft (a-t 2001; 32: 31-3). Nach einer aktuellen Analyse bessert sich die Otitis media bei 80 von 100 Kindern (mit „durchschnittlichem” Risiko) auch ohne Antibiotika innerhalb von drei Tagen. Antibiotikabehandlung führt zwar zu einer Besserung bei 12 weiteren Kindern, allerdings kommt es zu Durchfällen bei 5 bis 10 und zu Hautreaktionen bei 3 bis 10 von 100 Kindern.3 Nach einer Metaanalyse der Cochrane Collaboration profitieren am ehesten Kinder unter zwei Jahren, Kinder mit beidseitiger Otitis und mit Ausfluss.4
Zwei aktuelle, auch in der Tagespresse („Lieber schlucken statt warten”5) zitierte, randomisierte Studien aus den USA6 und Finnland7 zum Nutzen einer Antibiotikabehandlung bei kleinen Kindern unter zwei Jahren6 bzw. drei Jahren7 suggerieren einen größeren Nutzen als bislang gedacht und verleiten den Autor eines begleitenden Editorials8 zu geradezu euphorischer Bewertung. In beiden Studien wird eine sofortige antibiotische Behandlung mit abwartendem Vorgehen verglichen (angelegt als Plazebovergleich, jedoch Antibiotikabehandlung bei Verschlechterung).
In die US-amerikanische Studie6 werden 291 Kinder im Alter zwischen 6 und 23 Monaten und mit mindestens drei Punkten auf einer Symptomskala (AOM-SOS*, Werte von 0 = keine Symptome, bis 14 = viele und schwere Symptome) aufgenommen. Sie erhalten zehn Tage lang entweder Amoxicillin plus Clavulansäure (AUGMENTAN, Generika) oder Plazebo. Im Falle eines Therapieversagens (fehlende Verbesserung oder Verschlechterung und/oder verschlechterter lokaler Befund bis zum fünften Tag; inkomplette Abheilung bis zum zwölften Tag) bekommen alle Kinder Amoxicillin (AMOXYPEN, Generika) plus Cefixim (SUPRAX, Generika). Drei primäre Endpunkte zum Symptomverlauf werden in der Veröffentlichung angegeben: Symptomscore AOM-SOS von 0-1 (vollständige oder weitgehende Symptomfreiheit; nach sieben Tagen unter Antibiotika: 80%, Plazebo 74%, nicht signifikant); Zeit bis zur Erhebung von zwei hintereinander gemessenen AOM-SOS-Werten von 0-1 (z.B. Tag 7: 67% versus 53%, p = 0,04) sowie durchschnittliche Höhe des Symptomscores über sieben Tage (2,8 vs. 3,4, p = 0,01).6
Bei 7 Kindern in der Plazebogruppe (5%) und einem unter Antibiotika (1%) perforiert das Trommelfell. Durchfälle sind unter Amoxicillin/Clavulansäure häufiger (25 % vs. 15 %) ebenso wie Windeldermatitis (51% vs. 35%). Eine Mastoiditis tritt bei keinem der Kinder auf.6
Der Nutzen der sofortigen Antibiotikabehandlung erscheint höchstens moderat. Ein Blick auf die zahlreichen Protokollveränderungen im Verlauf und nach Abschluss der Studie weckt jedoch ernste Zweifel an der Integrität der Daten.9,10 Zunächst war lediglich der erste der drei Endpunkte – für den sich kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen ergibt – im Protokoll als solcher angegeben. Die konsekutive Erhebung zweier Symptomscores von 0-1 ist erst ein Jahr nach Abschluss der Studie klar als primärer Endpunkt definiert worden. Der dritte primäre Endpunkt (mittlerer Scorewert über sieben Tage) wird im Protokoll nach wie vor als sekundärer Endpunkt geführt.10 Ohne diese nachträglichen Manipulationen am Studienprotokoll wäre die Arbeit eine „Negativstudie”. Wir halten aufgrund der schweren methodischen Defizite die Arbeit für wenig glaubwürdig.
In der finnischen Studie7 erhalten 322 Kinder im Alter von 6 bis 35 Monaten mit akuter Otitis media randomisiert ebenfalls Amoxicillin plus Clavulansäure oder Plazebo. Die Kinder leiden an Ohrenschmerzen und haben otoskopisch Entzündungszeichen. Fast zwei Drittel sind jedoch fieberfrei. Primärer Endpunkt ist die Zeit bis zum Therapieversagen mit sechs möglichen Komponenten (fehlende Verbesserung bis zum dritten Tag, Verschlechterung des Zustandes, fehlende Verbesserung des lokalen Befundes, Trommelfellperforation, schwere Infektion, Abbrechen der Studienmedikation). Bei Verschlechterung wird offen antibiotisch behandelt, in der Regel mit Amoxicillin/Clavulansäure. Die Autoren errechnen einen deutlichen Vorteil zu Gunsten der antibiotischen Behandlung: Therapieversagen unter Antibiotika bei 18,6%, unter Plazebo bei 44,9%. Der deutliche Vorteil zu Gunsten von Verum beruht vor allem auf der durch die Eltern beobachteten „allgemeinen Verschlechterung” (9% vs. 20%) und fehlenden klinischen Verbesserungen bis zum dritten Tag (8% vs. 14%) sowie fehlender otoskopischer Verbesserung nach acht Tagen (0,6% vs. 10%).
Bei fünf Kindern unter Plazebo (3%) und einem Kind unter Antibiotikum (1%) perforiert das Trommelfell. Otitis media des zweiten Ohres tritt ebenfalls unter Verum seltener auf (8% vs. 19%). Durchfälle (48% vs. 27%) und Hautausschläge (9% vs. 3%) sind häufiger. Die Autoren beurteilen den Nutzen als erheblich und begründen dies unter anderem mit gegenüber älteren Studien klareren Einschlusskriterien: Die Aufnahme von Kindern mit nicht eindeutiger Diagnose könnte den Therapieeffekt in diesen Arbeiten „verwässert” haben. Allerdings ist im Praxisalltag eine eindeutige otoskopische Abklärung bei unruhigen Säuglingen und Kleinkindern häufig nicht möglich, sodass die weniger strengen Einschlusskriterien älterer Studien die Realität möglicherweise besser widerspiegeln. Der kompliziert konstruierte Endpunkt erschwert zudem die Interpretation, nicht zuletzt, da neben klinischem Verlauf auch ein Surrogatparameter (Otoskopiebefund) eingeht und der Endpunkt „Trommelfellperforation” für das Kind kein negatives Ereignis sein muss (Schmerzerleichterung, meist keine ungünstigen Folgen). Die Ergebnisse sind dennoch mit den aus Metaanalysen3 bekannten Daten vereinbar: Auch in der Plazebogruppe zeigt sich bis zum dritten Tag bei 86% der Kinder eine Besserung, bei 92% unter sofortiger Antibiotikabehandlung.
In beiden Studien werden zudem weder die Auswahl des Antibiotikums begründet (Amoxicillin/Clavulansäure hat keine gesicherten Vorteile gegenüber alleinigem Amoxicillin und birgt das Risiko schwerer Störwirkungen wie Leberversagen aufgrund des Clavulansäureanteils; a-t 2002; 33: 38-9) noch die zehntägige Therapiedauer, die gegenüber fünftägiger Behandlung keine Vorteile hat.4
Die Daten beider Studien geben für uns daher keinen Anlass, von einem abgewogenen Verschreibungsverhalten auch bei kleinen Kindern abzukehren. Würden alle Kinder sofort antibiotisch behandelt, erkauft man das etwas raschere Abklingen der akuten Symptome mit Störwirkungen und einer problematischen Resistenzlage. Möglicherweise wird zudem durch übermäßigen Antibiotikagebrauch der Langzeitverlauf ungünstig beeinflusst: Daten aus einer Nachbeobachtungsstudie mit 168 Kindern zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, die im Rahmen einer randomisierten Studie Antibiotika oder Plazebo erhielten, lassen eine höhere Rezidivrate innerhalb von 3,5 Jahren in der Antibiotikagruppe im Vergleich zu Plazebo erkennen (63% vs. 43%).11
In zwei aktuellen Studien aus Finnland und den USA wird der Nutzen einer sofortigen antibiotischen Behandlung gegenüber abwartendem Verhalten bei Kindern mit akuter Otitis media geprüft.
Die in der amerikanischen Studie errechneten moderaten Vorteile für die antibiotische Behandlung erscheinen aufgrund unzulässiger Manipulationen am Studienprotokoll wenig glaubhaft. Die Daten der finnischen Untersuchung sind vereinbar mit den Ergebnissen aus Metaanalysen bereits bekannter randomisierter kontrollierter Studien, die einen relativ geringen Nutzen unter Inkaufnahme Antibiotika-bedingter Nebenwirkungen errechnen.
Die Arbeiten geben keinen Anlass, von einer vorsichtigen Indikation zur antibiotischen Therapie abzukehren. Bestehen keine starken Krankheitszeichen, ist nach wie vor auch bei kleinen Kindern ein beobachtendes Zuwarten mit engmaschiger Kontrolle vor Verordnung eines Antibiotikums wie Amoxicillin (AMOXYPEN, Generika) für fünf Tage gerechtfertigt.
(R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | |
1 | Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN): Diagnosis and management of childhood otitis media in primary care, Stand Febr. 2003 |
2 | Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM): Ohrenschmerzen, Stand Aug. 2005 http://leitlinien.degam.de/index.php?id=67 |
M 3 | COKER, T.R. et al.: JAMA 2010; 304: 2161-9 |
M 4 | SANDERS, S. et al.: Antibiotics for acute otitis media in children. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Nov. 2008, Zugriff Febr. 2011 |
5 | FÜSSLER, C.: SZ vom 13. Jan. 2011, Seite 14 |
R 6 | HOBERMAN, A. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 364: 105-15 |
R 7 | TÄHTINEN, P.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 364: 116-26 |
8 | KLEIN, J.O.: N. Engl. J. Med. 2011; 364: 168-9 |
9 | SHREVES, A.: Changes between trial protocol and publication; http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa0912254#t=comments |
10 | Acute otitis media (ADM) Therapy Trial in Young Children; http://clinicaltrials.gov/archive/NCT00377260; Zugriff am 6. Febr. 2011 |
R 11 | BEZÁKOVÁ, N. et al.: BMJ 2009; 339: b2525 |
* | AOM-SOS = Acute Otitis Media – Severity of Symptoms Scale |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 11. Februar 2011
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