BREMST DAS AMNOG INNOVATIONEN?
Das im Januar 2011 in Kraft getretene Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG, a-t 2010; 41: 101-3) sieht vor, dass alle neu zugelassenen Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen einer frühen Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder einer von diesem beauftragten Institution unterzogen werden. Dafür müssen die Hersteller spätestens zum Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens Unterlagen vorlegen, aus denen der Zusatznutzen des neuen Mittels im Vergleich zu einer vom G-BA festgelegten "zweckmäßigen Vergleichstherapie" hervorgeht, "vorzugsweise eine Therapie, für die Endpunktstudien vorliegen und die sich in der Praxis bewährt hat".1,2 Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen werden einer Festbetragsgruppe zugeordnet oder es wird ein Erstattungsbetrag vereinbart, durch den der gesetzliche Krankenversicherung keine Mehrkosten gegenüber der Vergleichstherapie entstehen dürfen.
Während die erste frühe Nutzenbewertung zu Pitavastatin (LIVAZO; a-t 2011; 42: 60-1) "unkompliziert" verlief - der Anbieter des inzwischen siebenten Statins hatte auf die Einreichung von Unterlagen für eine Nutzenbewertung verzichtet und selbst die Aufnahme in eine Festbetragsgruppe beantragt3 - ist der Kampf um die Arzneimittelpreise nun voll entbrannt: "AMNOG stoppt die zweite Innovation",4 titelt die Ärzte Zeitung am 6. September 2011 anlässlich der Ankündigung von Boehringer Ingelheim und Lilly, ihr neues orales Antidiabetikum, den Dipeptidylpeptidase (DPP)-IV-Hemmer Linagliptin (TRAJENTA), in Deutschland zwar in Verkehr zu bringen und damit die Nutzenbewertung zu starten, es den Patienten aber vorerst nicht zur Verfügung zu stellen.* Die beiden Anbieter befürchten, dass "die Auswahl der Vergleichstherapie und die Bewertung zu einer nicht ausreichenden Berücksichtigung des therapeutischen Nutzens und der positiven Eigenschaften des Wirkstoffs führen werden" und in der Folge ein Erstattungsbetrag drohe, "der dem Innovationscharakter des Medikaments nicht gerecht wird".5 Mit welchem Mittel Linagliptin verglichen werden soll, wollen die Firmen allerdings nicht offenlegen. Es dürfte sich um einen bewährten patentfreien Wirkstoff wie Metformin (GLUCOPHAGE, Generika) oder Glibenclamid (EUGLUCON, Generika) handeln, für die es - im Gegensatz zu Linagliptin - positive Daten zu klinischen Endpunkten gibt
(a-t 2009; 40: 74-5, 1998; Nr. 10: 88-90). An diesen deutlich preiswerteren Mitteln orientiert sich am Ende jedoch auch der Erstattungspreis - und nicht an den anderen teuren DPP-IV-Hemmern wie Sitagliptin (JANUVIA, XELEVIA), die Boehringer und Lilly als Vergleichspartner gewünscht hatten.4 Ein Manager von Boehringer Ingelheim droht unverhohlen: "Wenn medizinische Innovationen nicht mehr in ihrer ganzen Tragweite gewürdigt werden, dann wird sich Deutschland mittelfristig vom medizinischen Fortschritt in Europa abkoppeln".6 Auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) fordert "Fairness" bei der frühen Nutzenbewertung. Die Kriterien dürften nicht so gewählt werden, dass sie Innovationen blockierten. "Politische Begleitung und Moderation" seien nötig.7
* | Auf Anfrage teilt Boehringer Ingelheim mit, dass Linagliptin vorrätig gehalten, jedoch vorerst nicht ausgeliefert wird.11 |
Zuvor hatte bereits Novartis mitgeteilt, seine Blutdrucksenker-Kombination RASILAMLO "bis auf Weiteres" vom Markt zu nehmen, "weil vom G-BA geforderte Daten zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorliegen".8 Streitpunkt ist auch hier die Vergleichstherapie: In den Zulassungsstudien wurde lediglich der blutdrucksenkende Effekt der Kombination mit dem der Einzelwirkstoffe verglichen, dem teuren Renininhibitor Aliskiren (RASILEZ) und dem Kalziumantagonisten Amlodipin (NORVASC, Generika). Für die Nutzenbewertung soll jetzt jedoch der Zusatznutzen gegenüber einem ACE-Hemmer plus Amlodipin bestimmt werden.8 Entsprechende direkte Vergleichsstudien fehlen bislang, sowohl für den Surrogatendpunkt Blutdrucksenkung und erst recht für patientenrelevante klinische Endpunkte wie kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität. Auch für das seit 2007 angebotene Aliskiren (a-t 2007; 38: 81-2) gibt es dazu nach wie vor keine entsprechenden Daten.9
Was Novartis verschweigt: Die Rechtsverordnung des BMG zur frühen Nutzenbewertung und die Verfahrensordnung des G-BA sehen bei Fehlen direkter Vergleichsstudien ausdrücklich die Möglichkeit eines indirekten Vergleichs vor.1,2 Dabei ist zu bewerten, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welchem Ausmaß ein Zusatznutzen vorliegt. Da sich Aliskiren hinsichtlich des blutdrucksenkenden Effekts nicht von anderen Antihypertensivaklassen einschließlich ACE-Hemmern unterscheidet und auch für die Kombination des Renininhibitors mit anderen Antihypertensiva hier kein Vorteil gegenüber einer Kombination etablierter Mittel belegt ist,10 dürfte die Wahrscheinlichkeit eines Zusatznutzens beim derzeitigen Kenntnisstand gering sein. Ein Erstattungsbetrag auf dem Niveau der Vergleichstherapie ist dann jedoch nicht "unfair", sondern gerechtfertigt. Immerhin geht es um viel Geld: Für täglich 150 mg Aliskiren plus 5 mg Amlodipin (RASILAMLO 150 mg/5 mg: 98 Tabletten zu 127,38 €) waren monatlich 38,99 € aufzuwenden und damit knapp das Sechsfache gegenüber einer Kombination aus 20 mg Enalapril (z.B. ENALAPRIL AL 20: 11,06 € für 100 Tabletten) plus 5 mg Amlodipin (z.B. AMLODIPIN STADA 5 mg: 11,01 € für 100 Tabletten), die monatlich 6,62 € kostet.
Nicht jeder neue Wirkstoff oder jede neue Wirkstoffkombination ist - nur weil sie neu ist - eine Innovation. Auf Neueinführungen wie RASILAMLO kann man getrost verzichten.
1 | Bundesministerium für Gesundheit: Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vom 28. Dez. 2010; http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/am-nutzenv/gesamt.pdf |
2 | G-BA: Beschluss vom 20. Jan. 2011; http://www.g-ba.de/downloads/39-261-1273/2011-01-20_VerfO_35a_BAnz.pdf |
3 | G-BA: Pressemitteilung vom 18. Aug. 2011 |
4 | Ärzte Ztg. vom 6. Sept. 2011, Seite 2 |
5 | Boehringer Ingelheim: Presseerklärung vom 2. Sept. 2011 |
6 | GÜNSTER, E., zit. nach CHEManager-online.com vom 4. Sept. 2011 http://www.chemanager-online.com/news-opinions/nachrichten/ trajenta-diabetesmittel-von-boehringer-und-lilly-deutschland-nicht-verfueg |
7 | vfa, zit. nach GIESEKE, S.: Ärzte Ztg. vom 9. Sept. 2011, Seite 5 |
8 | Novartis: Schreiben an Ärzte vom 19. Aug. 2011 |
9 | EMA: Europ. Produktinformation RASILAMLO, Stand 14. Apr. 2011 http://www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/ EPAR_-_Product_Information/human/002073/WC500107200.pdf |
10 | G-BA : Therapiehinweis zu Aliskiren vom 17. Dez. 2009; http://www.g-ba.de/downloads/39-261-1046/2009-12-17-AMR4-Aliskiren_BAnz.pdf |
11 | Boehringer Ingelheim: Schreiben vom 13. Sept. 2011 |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 16. September 2011
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