FAMPRIDIN (FAMPYRA) FÜR GEHBEHINDERTE MS-PATIENTEN?
Liegen Ihnen Informationen über Fampridin (FAMPYRA) bei Multipler Sklerose vor? Mehrere meiner MS-Patienten mit schwerer spastischer Gangstörung setzen ihre gesamte Hoffnung auf dieses neue Mittel und fragen mich um Rat.
Dr. med. H. ROTH (Fachärztin für Physikalische u. Rehabilitative Medizin)
D-56244 Freirachdorf
Interessenkonflikt: keiner
Fampridin (4-Aminopyridin [USA: Dalfampridin], FAMPYRA) ist ein Kaliumkanalblocker, der erst im zweiten Anlauf von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassen wurde und seit 1. September 2011 im Handel ist. Er soll die Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und Gehbehinderung verbessern.1 Als Rezepturarzneimittel ist Fampridin seit langem bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen in Gebrauch, auch bei MS.2,3 Eine deutsche Leitlinie von 2008 empfiehlt die Rezeptur zur Therapie der Fatigue bei MS. Ein Nutzen bei MS ließ sich bisher aber nicht hinreichend sichern.5
EIGENSCHAFTEN: Der Wirkmechanismus von Fampridin ist nicht vollständig geklärt. In demyelinisierten Axonen soll ein Leckstrom durch Kaliumkanäle dazu beitragen, dass die Weiterleitung des Aktionspotenzials, also des elektrischen Impulses, gehemmt wird. Blockierung der Kaliumkanäle durch Fampridin soll die Nervenleitfähigkeit in demyelinisierten Nervenfasern verbessern.2,6 Darüber hinaus wird auch ein immunmodulierender Effekt durch Kaliumkanalblockade in Immunzellen, darunter der Mikroglia, diskutiert.7
Die Retardformulierung des neuen Präparates soll hohe Spitzenspiegel verhindern und so die Verträglichkeit verbessern.6
Neben der klinischen Anwendung dient der Wirkstoff in der Forschung zur Auslösung von Krampfanfällen bei Labortieren sowie als Pestizid für Vögel, bei denen es Hyperaktivität hervorruft.6,7
* | OCT2 = Organic Cation Transporter 2, Glykoprotein in den proximalen Tubuli der Nieren, das eine wichtige Rolle in der renalen Ausscheidung organischer Kationen, darunter auch Arzneimittel, zu spielen scheint. |
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Zwei ähnlich angelegte randomisierte plazebokontrollierte Phase-III-Studien9,10 mit insgesamt 540 Patienten sind Basis der Zulassung. Die Teilnehmer sind im Mittel 51 bzw. 52 Jahre alt, leiden seit durchschnittlich 13 bzw. 14 Jahren an MS und haben eingangs einen medianen EDSS**-Score von 6. Im 25-Fuß-Gehtest (T25FW***) müssen sie eine Strecke von etwa 7,6 m in 8 s bis 45 s bewältigen. Zu den Ausschlusskriterien gehören MS-Schub innerhalb von zwei Monaten vor Studienbeginn, Hinweise auf epileptiforme Aktivität im EEG oder Epilepsie in der Vorgeschichte und klinisch bedeutsame kardiovaskuläre Erkrankungen. Während der doppelblinden Behandlungsphase von 14 bzw. 9 Wochen nehmen die Patienten entweder zweimal täglich 10 mg retardiertes Fampridin oder Plazebo ein. Primärer Endpunkt ist die Rate der Responder im T25FW-Gehtest, wobei Ansprechen definiert ist als höhere Gehgeschwindigkeit in mindestens drei von vier Messungen während der Behandlungsphase im Vergleich zur maximalen Geschwindigkeit davor oder danach.6,9,10
** | EDSS = Expanded Disability Status Scale: Skala von 0 = normaler neurologischer Befund bis 10 = Tod durch MS (vgl. a-t 2001; 32: 106) |
*** | T25FW = Timed 25-foot Walk Test: Misst die Geschwindigkeit, in der ein Patient eine Strecke von 25 Fuß, etwa 7,6 m, zurücklegt. |
In beiden Studien liegt die Responderrate unter Verum höher als unter Plazebo (35% versus 8% bzw. 43% vs. 9%).6,9,10 Über die klinische Relevanz der erzielten Geschwindigkeitssteigerung sagt die Analyse aber nichts aus, da auch ein noch so kleiner Zuwachs das Ansprechkriterium erfüllt und da unklar ist, inwieweit die höhere Gehgeschwindigkeit über eine kurze Distanz mit insgesamt verbesserter Gehfähigkeit korreliert. In der größeren der beiden Studien wird daher in einem zweiten, prädefinierten Schritt die von den Patienten selbst anhand eines Fragebogens (MSWS-12****) beurteilte Gehfähigkeit herangezogen und das Abschneiden von T25FW-Respondern in diesem Test mit dem von Nichtrespondern verglichen. Der mittlere MSWS-12-Wert verbessert sich von eingangs etwa 70 bei Respondern um 6,84, bei Non-Respondern um 0,05 Punkte.9 Nach Herstellerangaben soll eine Verbesserung des MSWS-12 in dieser Größenordnung einen klinisch relevanten Effekt bedeuten.6,11 Publizierte Daten finden wir dazu nicht. Eine Aussage zum Nutzen von Fampridin im Plazebovergleich lässt diese Analyse, bei der die randomisierte Zuteilung unberücksichtigt bleibt, ohnehin nicht zu.
**** | MSWS-12 = Multiple Sclerosis Walking Scale-12: 12 Fragen zur Beeinträchtigung der Gehfähigkeit durch die MS, vom Patienten selbst eingeschätzt, insgesamt 100 Punkte. Höherer Punktwert bedeutet stärkere Gehbehinderung. |
Post hoc hat der Hersteller Biogen Idec zudem eine weitere Auswertung der beiden Zulassungsstudien durchgeführt, in der als Ansprechkriterium unterschiedlich hohe Schwellenwerte einer zu erzielenden Gehgeschwindigkeitssteigerung im T25FW festgelegt werden – von mindestens 10% bis mindestens 60%. Fampridin erhöht die Rate der Responder bei Cut-off-Werten zwischen 10% und 30% in beiden Studien jeweils signifikant (bei gepoolter Analyse auch bei Cut off von 40%).3,6 Inwieweit ein mindestens 20%iger Geschwindigkeitszuwachs im T25FW, den unter Fampridin 33% (vs. 14% unter Plazebo) erreichen,6 eine klinisch bedeutsame Veränderung beinhaltet, wird kontrovers beurteilt.3,6,7 Robuste Evidenz für eine Assoziation dieses Schwellenwerts mit einer Verbesserung der Behinderung oder der Lebensqualität gibt es nach Einschätzung von einem der EMA-Berater nicht.6 Beweisenden Charakter hat die nachträgliche Analyse ohnehin nicht.
Fampridin hat demnach nur bei etwa 30% der Anwender überhaupt einen Effekt im Gehtest. Nachweise dafür, dass durch diesen Effekt patientenrelevante Kriterien wie Alltagsbewältigung oder Lebensqualität verbessert werden, fehlen jedoch. Die EMA hat die Nutzen-Schaden-Bilanz von Fampridin im zweiten Anlauf zwar positiv bewertet. Da die bisherigen Daten wichtige Aspekte der Gehfähigkeit unter Fampridin wie Balance oder Ausdauer nicht abdecken, wurde die Zulassung jedoch an die Auflage geknüpft, der Behörde spätestens 2016 die Ergebnisse einer plazebokontrollierten Langzeitstudie mit klinisch relevantem primären Endpunkt zur Gehfähigkeit vorzulegen.6
Längerfristig soll Fampridin laut Fachinformation zudem nur Patienten verordnet werden, die auf das Mittel ansprechen: Wenn nach zweiwöchiger Einnahme im Gehtest kein Vorteil erkennbar ist oder wenn subjektiv eine günstige Veränderung ausbleibt, soll das Mittel abgesetzt werden.1
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Fampridin hat eine enge therapeutische Breite. Bereits knapp oberhalb der zugelassenen Dosierung wird – bei insgesamt sehr kleinen Fallzahlen – eine Zunahme von Krampfanfällen beobachtet. Bei Dosisverdoppelung könnte das Risiko verzehnfacht sein. In Verbindung mit der empfohlenen Dosis von zweimal täglich 10 mg Retard ergibt sich in den Zulassungsstudien zwar kein Risikosignal, für eine verlässliche Einschätzung sind die Zahlen aber zu klein.6,7,11 Eine niedriger dosierte Zubereitung zur Anpassung zum Beispiel bei Niereninsuffizienz gibt es nicht. Sie wird in einer noch laufenden Studie erst erprobt.12 Wegen deutlich erhöhter Spiegel selbst bei leichter Niereninsuffizienz ist Fampridin bei Kreatininclearance unter 80 ml/min kontraindiziert. Die Clearance muss vor und regelmäßig während der Therapie überwacht werden. Auch Patienten mit Krampfanfällen in der Vorgeschichte dürfen das Mittel nicht einnehmen.1,6
In plazebokontrollierten Studien brechen 4% der Patienten die Behandlung mit Fampridin aufgrund unerwünschter Wirkungen ab (Plazebo: 2%). Sehr häufig (12%) treten Harnwegsinfektionen auf (Plazebo: 8%). Fampridin ruft zudem häufig neuropsychiatrische Störeffekte hervor, die mit dem Wirkmechanismus in Verbindung gebracht werden, darunter vor allem Schlaflosigkeit (9% vs. 4%), Schwindel (7% vs. 4%), Kopfschmerzen (7% vs. 4%), Gleichgewichtsstörungen (5% vs. 1%) und Angst (1,8% vs. 0,4%). Häufig kommen auch Magen-Darm-Beschwerden vor wie Übelkeit, Erbrechen und Obstipation.1,6-8
Ungeklärt sind häufigere Verschlechterungen der MS-Symptomatik unmittelbar nach Absetzen von Fampridin (1,5% vs. 0,4%), die in den Zulassungsstudien zum Teil als MS-Schub kodiert wurden, möglicherweise aber auch eine Entzugssymptomatik darstellen.7 Die kardiovaskuläre Sicherheit insbesondere bei vorgeschädigten Patienten, die von den Zulassungsstudien ausgeschlossen waren, bleibt zu klären. Theoretisch könnten aufgrund des Wirkmechanismus arrhythmogene Effekte zu erwarten sein. Ein Signal für QT-Verlängerung unter Fampridin gibt es jedoch nicht. Kardiovaskuläre Ereignisse kommen in den Zulassungsstudien unter Verum aber häufiger vor als unter Plazebo (2,5% vs. 1,3%).6
KOSTEN: Für die Erstverordnung von Fampridin (FAMPYRA) über zwei Wochen sind bei Einnahme von zweimal täglich 10 mg 274 € aufzuwenden. Die längerfristige Therapie kostet pro Monat in Deutschland 577 € und 673 € in Österreich.
Mit dem Kaliumkanalblocker Fampridin (FAMPYRA) wird jetzt eine symptomatische Therapie zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei gehbehinderten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) angeboten.
Nur bei etwa einem Drittel der Anwender zeigt sich überhaupt ein Effekt von Fampridin im Gehtest. Belege dafür, dass dieser Effekt einen patientenrelevanten Nutzen beinhaltet, fehlen jedoch.
Dem stehen häufige unerwünschte Effekte gegenüber, darunter vor allem Harnwegsinfekte, neuropsychiatrische Störungen wie Schlaflosigkeit, Angst, Schwindel, Kopfschmerzen und Balancestörungen sowie Magen-Darm-Beschwerden.
Vor allem wegen seines epileptogenen Potenzials gilt Fampridin als Mittel mit enger therapeutischer Breite. In Zulassungsstudien wurde eine Zunahme von Krampfanfällen bereits knapp oberhalb der jetzt zugelassenen Dosis beobachtet. Inwieweit die zugelassene Dosis diesbezüglich sicher ist, bleibt zu klären.
Da bereits eine Kreatininclearance von unter 80 ml/min eine Kontraindikation darstellt, sind regelmäßige Clearance-Kontrollen erforderlich.
Wegen der fehlenden Nutzenbelege und der offenen Fragen zur Sicherheit sollte Fampridin unseres Erachtens derzeit nur innerhalb kontrollierter Studien angewendet werden.
(R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | |
1 | Biogen Idec: Fachinformation FAMPYRA, Stand Juli 2011 |
2 | TEMPLE, R. (FDA): Office Director Memo AMPYRA (Dalfampridine), Stand Jan. 2010; http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/nda/2010/022250s000_ODMemo.pdf |
3 | BASTINGS, E. (FDA): Cross Discipline Team Leader Review Fampridine Sustained Release, Stand Jan. 2010; http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/nda/2010/022250s000_CrossR.pdf |
4 | Deutsche Gesellschaft für Neurologie: S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose, Stand Okt. 2008 http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-050.html |
M 5 | SOLARI, A. et al.: Aminopyridines for symptomatic treatment in multiple sclerosis. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Dez. 2004, Zugriff Nov. 2011 |
6 | EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) FAMPYRA, Stand Juni 2011 http://www.ema.europa.eu/ docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/002097/WC500109957.pdf |
7 | FDA: Medical Review Fampridine Sustained Release, Stand Dez. 2009 http://www.accessdata.fda.gov/ drugsatfda_docs/nda/2010/022250s000_MedR.pdf |
8 | Acorda Therapeutics: US-amerik. Produktinformation AMPYRA, Stand Jan. 2010; http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2010/0222 50s000lbl.pdf |
R 9 | GOODMAN, A.D. et al.: Lancet 2009; 373: 732-8 |
R 10 | GOODMAN, A. D. et al.: Ann. Neurol. 2010; 68: 494-502 |
11 | FDA: Transcript Advisory Committee Meeting 14. Okt. 2009 http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/CommitteesMeetingMaterials/ Drugs/PeripheralandCentralNervousSystemDrugsAdvisoryCommittee/UCM191028.pdf |
12 | Acorda Therapeutics: Study of Fampridine-ER Tablets in Patients with Multiple Sclerosis, ClinicalTrials.gov, Stand Aug. 2011; http://www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01328379 |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 4. November 2011
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