KARDIOVASKULÄRE KOMPLIKATIONEN UNTER ADHS-MITTELN: KEINE ENTWARNUNG
Die zur Behandlung eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) verwendeten Psychostimulanzien wie Methylphenidat (RITALIN, Generika) können Blutdruck und Herzfrequenz steigern (vgl. a-t 1999; Nr. 9: 96; 2011; 42: 85-6).1 Die Firma Lilly warnt aktuell in einem Rote-Hand-Brief vor Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz unter dem ADHS-Mittel Atomoxetin (STRATTERA; a-t 2005; 26: 33-5). Bei einem Teil der Anwender ist der Anstieg mit 15 bis 20 mmHg bzw. 20 Schlägen pro Minute und mehr ausgeprägter als in der Fachinformation bisher beschrieben.2 Wie bei Methylphenidat3 und dem kürzlich neu eingeführten
Dexamfetamin (ATTENTIN)4 muss jetzt auch vor Beginn und regelmäßig während einer Therapie mit Atomoxetin der kardiovaskuläre Status einschließlich Blutdruck und Herzfrequenz bestimmt werden.5 Alle diese ADHS-Mittel sind bei Herzkreislauferkrankungen wie Angina pectoris oder Schlaganfall kontraindiziert.3-5
Wie aufgrund der pharmakologischen Wirkung zu erwarten, werden ADHS-Mittel in der Spontanberichterfassung mit schweren Herz-Kreislauf-Komplikationen wie Herzinfarkt oder plötzlichem Tod in Verbindung gebracht. Sowohl die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA als auch die europäische EMA haben sich in den vergangenen Jahren mit den gegenüber ADHS-Mitteln bestehenden kardiovaskulären Sicherheitsbedenken befasst.6,7 Die FDA hat 2006 zur weiteren Klärung Observationsstudien gefordert, die inzwischen vorliegen.8,9 Dabei handelt es sich um retrospektive Auswertungen von Daten großer Krankenversicherungen in den USA. Eine Zunahme schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse, definiert als Herzinfarkt, plötzlicher Herztod oder Schlaganfall, unter Einnahme von Psychostimulanzien oder Atomoxetin lässt sich in diesen Studien nicht sichern, weder bei Kindern und jungen Erwachsenen (2 bis 24 Jahre)8 noch bei Erwachsenen im jungen und mittleren Lebensalter (25 bis 64 Jahre).9 Mit einer Vervielfachung des Risikos, wie sie in einer 2009 veröffentlichten Fallkontrollstudie10 beschrieben ist, sind die neuen Daten nicht vereinbar. Aufgrund der niedrigen Ereignisrate von nur 7 pro 370.000 Personenjahre in der Gruppe der aktuellen Anwender von ADHS-Mitteln - für sich genommen zweifellos ein positives Ergebnis - kann die Studie mit Kindern und jungen Erwachsenen trotz ihrer Größe einen geringeren Risikoanstieg jedoch nicht ausschließen (adjustierte Hazard Ratio [HR] im Vergleich zu Nichtanwendern 0,75; 95% Vertrauensbereich [CI] 0,31-1,85).1,8 Wegen methodischer Mängel will ein Statistiker der FDA vergleichende Schlussfolgerungen aus der Studie allerdings gar nicht zulassen.11
Die Ergebnisse bei Erwachsenen9 erwecken sogar den Anschein einer kardioprotektiven Wirkung der ADHS-Mittel: Der Vergleich aktueller Anwender (107.000 Personenjahre) mit Nichtanwendern ergibt eine signifikante "Senkung" schwerer kardiovaskulärer Ereignisse (adjustierte Rate Ratio [RR] 0,83; 95% CI 0,72-0,96). 9 Die Autoren und auch andere Kommentatoren halten dies allerdings für nicht plausibel.1,9,12 Sie interpretieren den Befund als am ehesten durch den so genannten "Healthy-user"-Effekt bedingt. Dieses Phänomen, dass a priori gesündere Menschen - gesundheitsbewusstere, besser gebildete, mit höherem sozioökonomischen Status - therapeutische Angebote eher wahrnehmen als weniger gesunde, ist eine wichtige Ursache für Verzerrungen in Beobachtungsstudien.1,13 Einen Hinweis darauf, dass ein "Healthy-user"-Effekt in der Studie vorliegen könnte, gibt der von der FDA eigentlich als primäre Analyse geforderte Vergleich von aktuellen mit früheren Anwendern von ADHS-Mitteln, die die Mittel schon seit mehr als einem Jahr abgesetzt haben.1 Hier unterscheidet sich das Risiko nicht (adjustierte RR 1,03; 95% CI 0,86-1,24).9 Einen Risikoanstieg in der Größenordnung, wie er für den Appetithemmer Sibutramin (REDUCTIL, außer Handel) in der SCOUT*-Studie beobachtet wurde (HR für Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzstillstand oder kardiovaskulär bedingten Tod 1,16; 95% CI 1,03-1,31; vgl. a-t 2010; 41: 24),14 kann dieser Vergleich wiederum nicht ausschließen. Sibutramin wirkt sich auf Blutdruck und Herzfrequenz ähnlich aus wie ADHS-Mittel.1 Die FDA sieht in den Studienergebnissen keine Basis, die bestehenden Anwendungsbeschränkungen und -vorschriften für ADHS-Mittel, die den hiesigen ähneln, zu ändern.15,16 FDA-Reviewer plädieren zur weiteren Klärung der Frage bei Erwachsenen für eine metaanalytische Auswertung randomisierter kontrollierter Studien.1,12
Psychostimulanzien wie Methylphenidat (RITALIN, Generika) und andere Mittel zur Behandlung eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) wie Atomoxetin (STRATTERA) können Blutdruck und Herzfrequenz steigern und werden in der Spontanberichterfassung mit schweren kardiovaskulären Komplikationen in Verbindung gebracht.
Zwei aktuelle, von der amerikanischen FDA geforderte Beobachtungsstudien zeigen keinen Anstieg schwerer kardiovaskulärer Komplikationen unter ADHS-Mitteln, können aufgrund von Studienmängeln die kardiovaskuläre Sicherheit der Mittel jedoch nicht belegen.
Aufgrund der pharmakologischen Effekte der ADHS-Mittel auf Blutdruck und Puls ist beim derzeitigen Kenntnisstand weiterhin von einem erhöhten kardiovaskulären Risiko auszugehen. Entsprechende Anwendungsbeschränkungen und -vorschriften sind zu beachten.
(R =randomisierte Studie) | |
1 | MOSHOLDER, A.D. (FDA): FDA/AHRQ-sponsored observational studies of cardiovascular events with drugs for Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) - Review Sept. 2011 http://www.fda.gov/downloads/Drugs/DrugSafety/UCM279900.pdf |
2 | Lilly: Rote-Hand-Brief zu STRATTERA vom 7. Dez. 2011 |
3 | Novartis: Fachinformation RITALIN LA, Stand Jan. 2011 |
4 | Medice: Fachinformation ATTENTIN, Stand Juli 2011 |
5 | Lilly: Fachinformation STRATTERA, Stand Dez. 2011 |
6 | FDA: Meeting minutes, Drug Safety and Risk Management Advisory Committee, 9./10. Feb. 2006; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/minutes/2006-4202M1_FINAL-Minutes.pdf |
7 | EMA: Wissenschaftliche Schlussfolgerungen und Begründung der EMEA für die Änderung der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels und der Packungsbeilage (Methylphenidat-haltiger Produkte), Mai 2009 http://www.bfarm.de/cae/servlet/contentblob/1020080/publicationFile/79475/methylphenidat_ke_annex.pdf |
8 | COOPER, W.O. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 365: 1896-904 |
9 | HABEL, L.A. et al.: JAMA 2011; 306: 2673-83 |
10 | GOULD, M.S. et al.: Am. J. Psychiatry 2009; 166: 992-1001 |
11 | McEVOY, B. (FDA): Statistical Safety Review and Evaluation, Observational Studies, Apr. 2011 http://www.fda.gov/downloads/Drugs/DrugSafety/UCM277931.pdf |
12 | RITTER, M. (FDA): Review and Evaluation of Clinical Data: Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) Medications in Children, Youth, Young and Middle aged Adults and risk of Serious Cardiovascular Disease (CVD), 16. Sept. 2011 http://www.fda.gov/downloads/Drugs/DrugSafety/UCM283021.pdf |
13 | RAY, W.A.: Am. J. Epidemiol. 2003; 158: 915-20 |
R 14 | JAMES, W.P.T. et al.: N. Engl. J. Med. 2010; 363: 905-17 |
15 | FDA: Safety Communication vom 1. Nov. 2011 http://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm277770.htm |
16 | FDA: Safety Communication vom 12. Dez. 2011 http://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm279858.htm |
* | SCOUT = Sibutramine Cardiovascular Outcomes |
© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 13. Januar 2012
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