RÜCKRUFE VON PUBLIKATIONEN - MEHR ALS EINER PRO TAG
Rückrufe wissenschaftlicher Veröffentlichungen scheinen heutzutage zum Alltag von Fachzeitschriften zu gehören: Im Schnitt trifft es täglich mindestens eine Arbeit. 2011 wurden mindestens 391 wissenschaftliche Veröffentlichungen zurückgezogen, bis Dezember 2012 bereits 322. Weitere werden für den Jahrgang 2012 hinzukommen, da einige Fachzeitschriften Rückrufe erst mit reichlicher Verzögerung bekannt geben.1
Bei zwei Drittel (67,4%) von 2.047 seit den 1970er Jahren zurückgezogenen Arbeiten liegt wissenschaftliches Fehlverhalten eines oder mehrerer Autoren vor, einschließlich Fälschung oder Verdacht auf Fälschung (43,4%), mehrfache Publikation der gleichen Arbeit (14,2%) und Diebstahl geistigen Eigentums (Plagiate, 9,8%). Jede fünfte Rücknahme (21,3%) wird mit Fehlern begründet. Bei einem Teil fehlen entsprechende Angaben. Dies ergibt eine Auswertung der Forschungsartikel, die zum Stichtag 3. Mai 2012 laut Datenbank PubMed von biomedizinischen Fachzeitschriften zurückgezogen worden sind.2 Von einer beträchtlichen Dunkelziffer von Studien, bei denen nicht erkannt ist, dass sie unter wissenschaftlichem Fehlverhalten entstanden sind, ist auszugehen.
Einige Autoren sind vielfach betroffen. Nahezu alle zurückgezogenen Artikel, die von Autoren mit mehr als zehn Rückrufen stammen, werden mit Betrug in Verbindung gebracht. Die meisten Manipulationen einer Einzelperson gehen auf einen japanischen Anästhesisten zurück. Yoshitaka FUJII soll zwischen 1993 und 2012 mindestens 172 von 212 Veröffentlichungen manipuliert haben. 3 Arbeiten sind offensichtlich in Ordnung, die Korrektheit der restlichen 37 ließ sich bislang nicht klären. FUJII galt als Experte für postoperative Übelkeit und postoperatives Erbrechen.3 Auffällig häufig hat er über den Serotonin-Antagonisten Granisetron (KEVATRIL, Generika) veröffentlicht, darunter auch Dosisfindungsstudien und randomisierte Vergleichsstudien. Bereits im Jahr 2000 wurden ungewöhnliche Übereinstimmungen von Patientendaten in einem Großteil der bis zu dieser Zeit veröffentlichten 47 Studien des Japaners beanstandet,4 ohne dass dies rasche Konsequenzen für seine weitere Arbeit hatte. Der Granisetron-Anbieter Roche und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte betonen auf Anfrage, dass für die Zulassung keine Daten von FUJII verwendet wurden.5,6 Werden allerdings in einer Metaanalyse die Daten zur Wirksamkeit von Granisetron bei postoperativer Übelkeit unter Ausschluss der Studien von FUJII ausgewertet, fallen die antiemetischen Effekte deutlich schlechter aus als unter Einschluss der Fujii-Arbeiten.7 Der Serotoninantagonist bleibt aber auch bei der reduzierten Datenlage ein wirksames Antiemetikum.7,8 Relevante Metaanalysen sollen inzwischen "FUJII-frei" sein.8
Die zweithäufigsten Rückrufe eines Einzelautors betreffen ebenfalls einen Anästhesisten, den Deutschen Joachim BOLDT. Bei 91 Arbeiten von 1999 bis 2011 wird wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt. Ein großer Teil der Studien entspricht nicht dem Standard. Genehmigungen der zuständigen Ethikkommission ließen sich bei 89 Artikel nicht verifizieren,9 Originaldaten sind nicht auffindbar und mindestens zehn Artikel enthalten gefälschte Daten. Das Ludwigshafener Klinikum, in dem er bis 2010 tätig war, betont, dass kein Patient körperlich zu Schaden gekommen sei.10 Die Arbeiten von BOLDT zu Hydroxyethylstärke (HES), die zu dessen breiter Verwendung beigetragen haben dürften, sind weltweit in Leitlinien eingeflossen. Der Status des Volumenexpanders, der zur Zeit der beanstandeten Studien routinemäßig verwendet wurde, wird derzeit überprüft. Unter Gebrauch von HES bei schwerer Sepsis ist im Vergleich mit Ringerazetatlösung ein höheres Risiko von Dialysepflicht und Tod beschrieben.11 Der Einsatz bei Hypovolämie und hypovolämischem Schock bei kritisch Kranken, insbesondere Patienten mit Sepsis, wird daher jetzt von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA neu bewertet.12
Viele Artikel, bei denen Forschungsbetrug vermutet wird oder belegt ist, werden nicht zurückgezogen, wie etwa die CLASS*13- und die VIGOR*14-Studie, mit deren Hilfe die Cox-2-Hemmer Celecoxib (CELEBREX) und Rofecoxib (VIOXX, außer Handel) vor mehr als zehn Jahren als angeblich besonders verträglich im Markt lanciert wurden
(vgl. a-t 2011; 42: 25-6). Auch ein Rückruf der KAISER-Analyse15, die sowohl Roche als auch Behörden wie EMA oder die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) als Nutzenbeleg für den Neuraminidasehemmer Oseltamivir (TAMIFLU) heranziehen, und auch eines Teils der darin ausgewerteten Untersuchungen, die nur als Abstract vorliegen, ist überfällig, die Rücknahme eines Abstracts beispielsweise, dessen Erstautor hinterher erklärt hat, überhaupt nicht in die Studie involviert gewesen zu sein
(a-t 2012; 43: 17-8 und 2010; 41: 4, 13).
Einheitliche Regeln fehlen, wie mit Artikeln umzugehen ist, die unter wissenschaftlichem Fehlverhalten entstanden sind. Einige der Rückrufe werden detailliert begründet, viele Kommentare bleiben aber nebulös. Oft schreiben die Autoren diese Texte sogar selbst. Es ist nachvollziehbar, dass sie dabei zu verharmlosenden Formulierungen neigen. Bei 5,8% der 2.047 ausgewerteten zurückgezogenen Artikel bleiben die Zeitschriften jegliche Begründung schuldig.2
Fälschungen oder Duplizierungen von Studiendaten oder anderes wissenschaftliches Fehlverhalten wie Plagiate machen inzwischen auffällig häufig Rückrufe wissenschaftlicher Veröffentlichungen erforderlich.
Die Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften sollten für einheitliche Regeln für Studienrücknahmen sorgen.
Andere Strategien, Studienergebnisse zu beeinflussen, stellen wahrscheinlich ein erheblich größeres Problem dar als Fälschungen: Nichtveröffentlichung negativer Studienergebnisse sowie Studiendesigns oder Ergebnisdarstellungen, die das Produkt des Sponsors begünstigen, können zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen in der Medizin führen (a-t 2010; 41: 1-3).
(R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | |
1 | ORANSKY, I.: How many retractions were there in 2012? And, some shattered records. Retraction Watch 24. Dez. 2012 http://retractionwatch.wordpress.com/ 2012/12/24/how-many-retractions-were-there-in-2012-and-some-shattered-records/#more-11315 |
2 | FANG, F.C. et al.: Proc. Natl. Acad. Sci. USA (PNAS) 2012; 109: 17028-33 |
3 | MARCUS, A.: Does anesthesiology have a problem? Final version of report suggests FUJII will take retraction record, with 172. Retraction Watch 2. Juli 2012 http://retractionwatch.wordpress.com/category/by-author/yoshitaka-fujii/ |
4 | KRANKE, P. et al.: Anesthesia & Analgesia 2000; 90: 1004-7 |
5 | BfArM: Schreiben vom 7. Jan. 2013 |
6 | Roche: E-Mail vom 10. Jan. 2013 |
M 7 | CARLISLE, J.B.: Anaesthesia 2012; 67: 1076-90 |
8 | KRANKE, P.: Anaesthesia 2012; 67: 1063-75 |
9 | Editors-in-Chief Statement Regarding Published Clinical Trials Conducted without IRB Approval by Joachim BOLDT, 2. März 2011 http://www.oxfordjournals.org/our_journals/bjaint/ eic%20joint%20statement%20on%20retractions.pdf |
10 | Klinikum Ludwigshafen: Klinikum stellt Ergebnisse des Abschlussberichts vor: Kommission beendet Untersuchungen im Falle Herr Dr. BOLDT, 9. Aug. 2012, Stand 17. Dez. 2012 |
R 11 | PERNER, A. et al.: N. Engl. J. Med. 2012; 367: 124-34 |
12 | EMA: Review of hydroxyethyl-starch-containing solutions for infusion started. 29. Nov. 2012 (EMA/757392/2012); http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Referrals_document/ Solutions_for_infusion_containing_hydroxyethyl_starch/Procedure_started/WC500135589.pdf |
R 13 | BOMBARDIER, C. et al.: N. Engl. J. Med. 2000; 343: 1520-8 |
R 14 | SILVERSTEIN, F.E. et al.: JAMA 2000; 284: 1247-55 |
M 15 | KAISER, L. et al. Arch. Intern. Med. 2003; 163: 1667-72 |
* | CLASS = Celecoxib Long-term Arthritis Safety-Study VIGOR = VIOXX Gastrointestinal Outcomes Research |
© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 18. Januar 2013
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
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