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Therapiekritik

REMDESIVIR – THERAPIESTANDARD BEI COVID-19?

Ende April 2020 teilte das US-amerikanische National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) in einer Presseerklärung mit, dass das bislang nicht regulär zugelassene Virustatikum Remdesivir laut Zwischenauswertung einer adaptiven** randomisierten Studie (ACTT) bei fortgeschrittener COVID-19-Erkrankung die Erholung beschleunigen soll.1 Bis Redaktionsschluss ist die von der Behörde durchgeführte Untersuchung weiterhin nicht vollständig publiziert. 1.063 hospitalisierte Patienten1 mit COVID-19 und radiologischem Nachweis von Lungeninfiltraten, verminderter Sauerstoffsättigung, Sauerstofftherapie oder Beatmung nehmen an der Doppelblindstudie teil, wobei unklar bleibt, wie viele in die Auswertung eingehen. An 10 Tagen erhalten sie entweder Infusionen von Remdesivir (200 mg an Tag 1, gefolgt von täglich 100 mg) oder Plazebo.2 Als primärer Endpunkt wird die Zeit bis zur Erholung erfasst, definiert als ausreichende Genesung für die Krankenhausentlassung oder Wiederherstellung der normalen Aktivität: Im Median wird diese Zeit unter Remdesivir von 15 auf 11 Tage reduziert (p < 0,001). Die Mortalität liegt bei 8,0% versus 11,6%, ein nicht signifikanter Unterschied (p = 0,059).1

*Vorversion am 30. April 2020 als blitz-a-t veröffentlicht.
**Abhängig von Zwischenergebnissen sollen weitere experimentelle Therapien untersucht und die Kontrolltherapie angepasst werden – aktuell ist geplant, den Zusatz des als Reservemittel bei rheumatoider Arthritis zugelassenen Januskinase-Hemmers Baricitinib (OLUMIANT; a-t 2017; 48: 58-60) zu Remdesivir zu prüfen.10

Für den Direktor des NIAID, Anthony FAUCI, wird Remdesivir damit zum Therapiestandard.3 Die Zulassung für den notfallmäßigen Gebrauch in den USA (so genannte Emergency Use Authorization) ist praktisch gleichzeitig erfolgt, obwohl es sich bei den Daten der ACTT-Studie bislang lediglich um vorläufige und weitgehend unvollständig dokumentierte Resultate einer Zwischenauswertung handelt und im Studienregister2 erst am 16. April 2020 der primäre Endpunkt geändert wurde, der zuvor auch Mortalität und invasive Beatmung beinhaltete. Das Ergebnis ist somit möglicherweise verzerrt. Zudem bleibt ungewiss, ob Remdesivir die Sterblichkeit beeinflusst. Auch vermissen wir beispielsweise Daten zu Beatmungsdauer und unerwünschten Wirkungen. Die vollständige Publikation der Studiendaten ist dringend erforderlich.

Gleichzeitig präsentierte der Remdesivir-Hersteller Gilead in einer Pressemitteilung Ergebnisse einer ebenfalls unveröffentlichten offen durchgeführten randomisierten Studie an 397 hospitalisierten, nicht beatmeten Patienten mit COVID-19 und Nachweis einer Pneumonie sowie verminderter Sauerstoffsättigung. Zwischen fünftägiger und zehntägiger Infusion von Remdesivir soll sich demnach nach 14 Tagen kein signifikanter Unterschied im Hinblick auf eine klinische Verbesserung um wenigstens 2 Punkte auf einer 7-Punkte-Skala ergeben (65% [5 Tage] vs. 54% [10 Tage]).4 Zur Einschätzung der Wirksamkeit von Remdesivir bei COVID-19 kann diese Studie allerdings nichts beitragen, da eine Plazebo- oder Kontrollgruppe fehlt.

Vollständig publiziert ist eine randomisierte Doppelblindstudie aus China an 237 hospitalisierten, im Median 65 Jahre alten Patienten mit COVID-19 und radiologisch bestätigter Pneumonie sowie verminderter Sauerstoffsättigung oder unter Sauerstofftherapie. Primär untersucht wird die Zeit bis zur Entlassung oder einer klinischen Verbesserung innerhalb von 28 Tagen um 2 Punkte auf einer 6-Punkte-Skala. Remdesivir für 10 Tage (dosiert wie in der ACTT-Studie) wirkt hier nicht signifikant besser als Plazebo (im Median 21 Tage vs. 23 Tage). Die ursprünglich angestrebte Fallzahl von 453 Patienten soll wegen Kontrolle des Ausbruchs in China allerdings nicht erreicht worden sein, sodass die Studie zu klein ist, um die Frage mit ausreichender statistischer Power zu beantworten. Die Mortalität innerhalb von 28 Tagen ist in den Gruppen in etwa gleich (14% vs. 13%). Auch unerwünschte Ereignisse betreffen unter Remdesivir insgesamt etwa gleich viele Patienten wie unter Plazebo (66% vs. 64%), schwerwiegende sind unter dem Virustatikum numerisch seltener (18% vs. 26%). Die Therapie mit Remdesivir wird aber häufiger wegen unerwünschter Wirkungen abgebrochen (12% vs. 5%).5

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat die Bewertung vorhandener Daten zu Remdesivir im Rahmen eines „Rolling Review“*** begonnen, um die Prüfung eines Zulassungsantrags nach dessen Eingang zu beschleunigen.6 Eine bedingte Zulassung, also mit Auflagen, könnte in den nächsten Tagen erfolgen.7 Bereits Anfang April sprach sich die EMA für die seitdem hierzulande erlaubte kostenfreie Abgabe und Anwendung im Rahmen eines Härtefallprogramms („Compassionate Use“) für invasiv beatmete Patienten aus. Aktuell befürwortet sie die Ausweitung des Programms auf COVID-19-Kranke, die hospitalisiert sind und Sauerstoff benötigen, aber nicht invasiv beatmet sind, oder bei denen eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO)**** durchgeführt wird. Eine zehntägige Behandlung wird bei invasiver Beatmung oder ECMO empfohlen, eine fünftägige für andere Patienten mit schwerer COVID-19-Erkrankung.8,9 Vollständige Studienergebnisse liegen diesen Empfehlungen allerdings ebenfalls nicht zu Grunde.9

***kontinuierlich in mehreren Runden
****Das Blut wird außerhalb des Körpers mit Sauerstoff angereichert und Kohlendioxid entfernt. Hierfür wird Blut kontinuierlich aus dem Körper durch einen Membranoxygenator und zurück in den Patienten gepumpt.

Aus den bislang bekannt gewordenen Daten zu Remdesivir bei COVID-19 lassen sich hinreichend sichere Aussagen zum Nutzen nicht ableiten.

Therapiestandards müssen aus unserer Sicht auch beim neuen SARS-CoV-2 auf nachvollziehbaren Daten beruhen. Bevor von Remdesivir als Therapiestandard auszugehen ist, bedürfen die Ergebnisse der ACTT-Studie zumindest der Bestätigung. Dafür sollten jetzt auch Zwischenanalysen der anderen laufenden Studien mit Remdesivir bei COVID-19 durchgeführt werden.

(R = randomisierte Studie)
1NIAID: Pressemitteilung vom 29. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=erzd
2ClinicalTrials.gov: History of Changes for Study: NCT04280705; http://www.a-turl.de/?k=renk
3HUGHES, S.: Medscape, 29. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=enge
4Gilead: Pressemitteilung vom 29. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=oosi
R5WANG, Y. et al.: Lancet 2020; 395: 1569-78
6EMA: Pressemitteilung vom 30. April 2020; http://www.a-turl.de/?k=fann
7GUARASCIO, F.: Reuters, 18. Mai 2020; http://www.a-turl.de/?k=ossa
8EMA: Pressemitteilung vom 11. Mai 2020; http://www.a-turl.de/?k=ippr
9EMA: Summary on compassionate use, Stand 11. Mai 2020; http://www.a-turl.de/?k=wief
10NIAID: Pressemitteilung vom 8. Mai 2020; http://www.a-turl.de/?k=asda

© 2020 arznei-telegramm, publiziert am 22. Mai 2020

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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