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Nebenwirkungen

ZU DEN ANAPHYALAKTISCHEN REAKTIONEN AUF DEN COVID-19-IMPFSTOFF BNT162b2 (COMIRNATY)

Am ersten Tag der Massenimmunisierung mit dem COVID-19-Impfstoff BNT162b2 (COMIRNATY) in Großbritannien kam es bei zwei Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes zu einer Anaphylaxie (a-t 2020; 51: 92, 101-2). Beide sollen anaphylaktische Reaktionen in der Vorgeschichte gehabt haben.1 Seither sind weltweit mehrere Millionen Dosierungen der Vakzine verimpft worden. Die Häufigkeit anaphylaktischer Reaktionen auf den Impfstoff, die in Zulassungsstudien nicht beobachtet wurden,1 lässt sich daher inzwischen etwas besser einschätzen. Die US-amerikanische Seuchenbehörde CDC hat am 6. Januar zusammen mit der Arzneimittelbehörde FDA eine Auswertung aller Verdachtsberichte über schwere allergische Reaktionen auf den Impfstoff publiziert, die ihnen zwischen dem 14. und 23. Dezember 2020 gemeldet wurden. Bis 23. Dezember sind in den USA 1,89 Mio. Erstdosierungen des Impfstoffs verabreicht worden. Unter den Spontanmeldungen über unerwünschte Effekte (4.393; 0,2%) sind 175 Berichte über mögliche schwere allergische Reaktionen einschließlich Anaphylaxie.2

21 dieser Berichte erfüllen die Kriterien für die Falldefinition einer Anaphylaxie nach Impfungen, die von der internationalen Brighton Collaboration3 entwickelt wurden, und sind nicht später als am Tag nach der Injektion aufgetreten.2 CDC und FDA errechnen daraus vorläufig eine Häufigkeit von 11,1 pro 1 Million Impfdosen. Die Komplikation wäre somit sehr selten, aber häufiger als nach den meisten herkömmlichen Impfstoffen, unter denen sie insgesamt auf 1,3 pro 1 Mio. Dosierungen geschätzt wird.4 Bei 17 (81%) der Betroffenen unter BNT162b2 ist eine Allergie in der Vorgeschichte bekannt, 7 (33%) haben bereits zuvor eine Anaphylaxie durchgemacht. Die Symptome treten im Median 13 Minuten, bei 71% innerhalb von 15 Minuten, bei 86% innerhalb von 30 Minuten (maximal 150 Minuten) nach der Impfung auf. Die vorherrschenden Hauterscheinungen der Patienten sind generalisierte Urtikaria (48%) oder diffuser erythematöser Hautausschlag (33%), zusammen mit Symptomen in anderen Organsystemen.2 Die schwerste Form der Anaphylaxie, der anaphylaktische Schock, ist unter den hier beschriebenen Ereignissen offensichtlich nicht erfasst.

Bei 90% ist Adrenalin (SUPRARENIN, Generika) Teil der Notfalltherapie. Vier Patienten werden stationär aufgenommen, davon drei auf Intensivstationen. Tödlicher Verlauf einer Anaphylaxie auf den COVID-19-Impfstoff BNT162b2 ist den US-amerikanischen Behörden zum Berichtszeitpunkt nicht bekannt geworden.2

Das mittlere Alter der Betroffenen ist 40 Jahre, 19 (90%) sind Frauen. Ein ähnliches Ungleichgewicht zu Ungunsten der Frauen ist 2009 bei Überempfindlichkeitsreaktionen auf Schweinegrippeimpfstoffe aufgefallen.5 Zu berücksichtigen ist in der aktuellen Situation jedoch, dass in den USA, soweit mitgeteilt, bislang mehr Frauen (64%) mit dem COVID-19-Impfstoff immunisiert wurden.2

Eine ähnliche Bewertung der Verdachtsmeldungen zu COVID-19-Impfstoffen nimmt hierzulande das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) vor. In einem Sicherheitsbericht, der sich auf die Zeit bis 10. Januar 2021 mit Immunisierung von insgesamt gut 613.000 Personen bezieht, beschreibt das PEI sechs Verdachtsberichte über Anaphylaxie auf BNT162b2, von denen fünf der Falldefinition gemäß Brighton Collaboration entsprechen. Beim sechsten reichen die Informationen für eine Einordnung nicht aus. Fünf der Betroffenen sind Frauen,* bei vier der sechs sind Allergien in der Vorgeschichte bekannt. Bei drei Frauen tritt die Reaktion innerhalb von 15, bei zwei weiteren innerhalb von 30 Minuten nach der Injektion auf. Bei dem betroffenen Mann bleibt der genaue Beginn unklar, der Notarzt wurde drei Stunden nach der Impfung gerufen. Vier der sechs erhalten Adrenalin, fünf werden stationär aufgenommen. Das PEI schätzt die Häufigkeit ähnlich wie CDC und FDA und ebenfalls vorläufig auf 9,8 pro 1 Mio. Impfdosen.6

*Die Angaben dazu sind nicht ganz einheitlich, auf Nachfrage erhielten wir vom PEI bis Redaktionsschluss keine Antwort.

Bei der Anaphylaxie handelt es sich um eine schwerwiegende systemische Überempfindlichkeitsreaktion, die üblicherweise akut auftritt und wegen potenziell lebensbedrohlichen Verlaufs sofortige Therapie erfordert.7 Die Diagnose wird primär aufgrund klinischer Zeichen und Symptome gestellt, darunter an der Haut/Schleimhaut: generalisierte Urtikaria, generalisierter Juckreiz, Schwellung von Gesicht, Lippen, Rachen; an den Atemwegen: Atemnot, Giemen/Bronchospasmus, Stridor, Husten; kardiovaskulär: Blutdruckabfall, Tachykardie, Schwindel, Ohnmacht; gastrointestinal: Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Erstwahlmittel ist Adrenalin.3,7,8 Alle Impflinge müssen nach der Injektion mindestens 15 Minuten überwacht werden, und in den Impfzentren bzw. bei den mobilen Impfteams müssen adäquate Arzneimittel und Ausrüstungen zur Notfalltherapie einer Anaphylaxie verfügbar sein.9,10 Für bestimmte Risikogruppen, zum Beispiel Personen mit anaphylaktischer Reaktion auf Impfstoffe in der Vorgeschichte, empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) längere Nachbeobachtungszeiten.11 Patienten müssen zudem darüber aufgeklärt werden, dass sie sich bei späterem Auftreten allergischer Symptome umgehend ärztliche Hilfe holen.8 Patienten mit Überempfindlichkeit auf Bestandteile des Impfstoffes dürfen die Vakzine nicht erhalten, Patienten mit anaphylaktischer Reaktion auf die erste Dosis keine zweite.9,10**

**Laut PEI soll bei allergischer Reaktion auf die erste Dosis keine zweite Dosis verimpft werden.12

Der Auslöser der Reaktionen ist bislang nicht bekannt. In erster Linie werden die Lipid-Nanopartikel verdächtigt, in denen die Messenger-RNA eingebettet ist, und hier besonders das in einem der Lipide enthaltene Polyethylenglykol (PEG, Makrogol).13,14 PEG dient als Wirkstoff zur Behandlung der Obstipation sowie zur Darmreinigung vor diagnostischen oder operativen Eingriffen, ist als Wirkstoffkonjugat oder gekoppelt an Liposomen in pegylierten Arzneimitteln, aber auch, ähnlich wie das strukturell verwandte Polysorbat, als Hilfsstoff in vielen anderen Arzneimitteln, Medizinprodukten und Kosmetika enthalten. Überempfindlichkeitsreaktionen vom Soforttyp auf PEG sind beschrieben, darunter Anaphylaxien.13-16 Auch der mRNA-Impfstoff von Moderna gegen COVID-19 enthält PEG. Nach Markteinführung ist auch unter dieser Vakzine Anaphylaxie berichtet worden,2 deren Häufigkeit wegen der geringeren Erfahrung aber noch unklar ist (vgl. Seite 3).***

***In Kalifornien wird derzeit eine Häufung möglicher schwerer allergischer Reaktionen in einem Impfzentrum unter einer Charge des Moderna-Impfstoffs untersucht.17

Gemäß ersten Einschätzungen von Gesundheitsbehörden kommt es bei etwa 1 von 100.000 Personen nach Erstdosierung des COVID-19-Impfstoffs BNT162b2 (COMIRNATY) zu Anaphylaxie, einer potenziell lebensbedrohlichen, aber behandelbaren akuten Überempfindlichkeitsreaktion.

Bei der Mehrzahl tritt die Reaktion innerhalb von 15 bis 30 Minuten nach Impfung auf. In Einzelfällen sind jedoch auch Intervalle von mehreren Stunden beschrieben.

Bei der Mehrzahl der Betroffenen sind Allergien in der Vorgeschichte bekannt.

Auch unter dem COVID-19-Impfstoff von Moderna ist inzwischen Anaphylaxie beschrieben. Deren Häufigkeit ist noch unklar.

Alle Impflinge müssen mindestens 15 Minuten nach der Injektion nachbeobachtet werden, adäquate Arzneimittel und Ausrüstungen zur Notfalltherapie müssen verfügbar sein.

1FDA: Review BNT162b2, 11. Dez. 2020; http://www.a-turl.de/?k=aarw
2CDC COVID-19 Response Team, FDA: MMWR 2021; 70: 46-51
3RÜGGEBERG, J.U. et al.: Vaccine 2007; 25: 5675-84
4McNEIL, M.M., DeSTEFANO, F.: J. Allergy Clin. Immunol. 2018; 141: 463-72
5HALSEY, N.A. et al.: Vaccine 2013; 31: 6107-12
6Paul-Ehrlich-Institut: Sicherheitsbericht. Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19, 13. Jan. 2021; http://www.a-turl.de/?k=itte
7CARDONA, V. et al.: World Allergy Org. J. 2020; 13: 100472 (25 Seiten)
8CDC: Interim considerations: preparing for the potential management of anaphylaxis after COVID-19 vaccination, 31. Dez. 2020; http://www.a-turl.de/?k=lsbe
9EMA: Summary of Product information COMIRNATY, Stand Jan. 2021; http://www.a-turl.de/?k=erzw
10EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) COMIRNATY, Stand Dez. 2020; http://www.a-turl.de/?k=teen
11STIKO: Epidemiol. Bull. 2021; Nr. 2: 3-71; http://www.a-turl.de/?k=upbu
12PEI: Coronaimpfung bei Allergikerinnen und Allergikern, 29. Dez. 2020; http://www.a-turl.de/?k=ampe
13PEI: Empfehlung zur Coronaimpfung für Allergikerinnen und Allergiker, 23. Dez. 2020; http://www.a-turl.de/?k=axdo
14CASTELLS, M.C., PHILLIPS, E.J.: N. Engl. J. Med., online publ. am 30. Dez. 2020; https://doi.org/10.1056/NEJMra2035343 (7 Seiten)
15STONE, C.A. et al.: J. Allergy Clin. Immunol. Pract. 2019; 7: 1533-40.e8
16WENANDE, E., GARVEY, L.H.: Clin. Exp. Allergy 2016; 46: 907-22
17California Department of Public Health: Presseerklärung vom 17. Jan. 2021, Update 18. Jan. 2021; http://www.a-turl.de/?k=ilze

© 2021 arznei-telegramm, publiziert am 22. Januar 2021

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