Seit August ist aktiviertes Protein C (Drotrecogin alpha; XIGRIS) EU-weit zur Behandlung von Erwachsenen mit schwerer Sepsis und akutem
Mehrorganversagen als Ergänzung zu bester intensivmedizinischer Standardtherapie zugelassen.1 Seit Oktober ist es in Deutschland verfügbar.
Bevor eine sinnvolle Verwendung des äußerst kostspieligen Mittels empfohlen werden kann, bleiben viele Fragen zu klären, insbesondere zu
Langzeitwirksamkeit, Sicherheit und Kombinierbarkeit mit anderen Behandlungsstrategien.
HINTERGRUND: Eine durch bakterielle Toxine ausgelöste Überproduktion und überschießende Aktivierung von
Zytokinen kennzeichnen die Sepsis. Die Ausschwemmung der für die lokale Infektionsabwehr wichtigen Botenstoffe führt zu einer systemischen
Entzündungsreaktion mit Endothelschäden kleiner Gefäße und komplexen Gerinnungsstörungen. Organversagen bestimmt den weiteren
Krankheitsverlauf. Bei Versagen mehrerer Organsysteme geht die Sepsis mit hoher Letalität einher. Trotz theoretisch plausibler Ansätze konnten in
klinischen Studien weder hoch dosierte Glukokortikoide noch Antithrombin III oder Antikörper gegen bakterielle Endotoxine, Tumor-Nekrose-Faktor und
Interleukin die Mortalität bei schwerer Sepsis senken.2,3
EIGENSCHAFTEN: Drotrecogin alpha ist ein rekombinant mit Hilfe menschlicher Zelllinien hergestelltes Analog von aktiviertem Protein C,
dessen Serumspiegel bei Sepsis häufig vermindert ist. Durch Inaktivierung von Faktor V und VIII hemmt es die Blutgerinnung und Bildung mikrovaskulärer
Thromben. Gleichzeitig fördert es die Fibrinolyse und vermindert die Produktion und Aktivierung von Entzündungsmediatoren wie Tumor-Nekrose-Faktor
oder Interleukin-6.4 Zentrale Mechanismen der Pathogenese der schweren Sepsis werden somit günstig beeinflusst. Bei intravenöser Infusion
von Drotrecogin werden konstante Serumspiegel schon nach etwa zwei Stunden erreicht. Wegen seines hohen Molekulargewichts verteilt es sich fast
ausschließlich extrazellulär. Plasmatische Proteaseinhibitoren inaktivieren das Glykoprotein. Bei einer Halbwertszeit von 15 Minuten ist Drotrecogin im
Serum zwei Stunden nach Infusionsende nicht mehr nachweisbar. Begleiterkrankungen und vor allem Niereninsuffizienz scheinen die Kinetik nicht zu
beeinflussen.4
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Neben einer kleineren Dosisfindungsstudie5 basiert die Zulassung im Wesentlichen auf Daten einer einzigen
multizentrischen Doppelblind-Studie (PROWESS*). 1.670 Patienten mit schwerer Sepsis erhalten 96 Stunden lang Drotrecogin (24 µ/kg/h) oder
Plazebo.6
Die Studienteilnehmer sind auf Grund der zahlreichen Ein- und Ausschlusskriterien ein hochselektiertes Kollektiv. In den 164 Zentren kommen pro Jahr
durchschnittlich nur jeweils fünf Patienten für die Aufnahme in Frage. Zu den Einschlusskriterien gehören der Nachweis einer bakteriellen Infektion
oder hochgradiger Verdacht darauf, Versagen mindestens eines Organsystems sowie modifizierte SIRS**-Kriterien. Die Diagnose der Sepsis ist innerhalb von 24
Stunden zu stellen und die Therapie spätestens nach weiteren 24 Stunden zu beginnen. Tatsächlich erhalten die Patienten die Medikation im Mittel schon
nach 17 Stunden.
Die Studie wird nach einer Zwischenanalyse abgebrochen, weil Drotrecogin die Sterblichkeit innerhalb von 28 Tagen (primärer Endpunkt) von 30,8% unter
Plazebo auf 24,7% senkt (NNT = 17). Der Effekt ist unabhängig davon, ob zu Beginn ein Mangel an Protein C vorlag (82%) oder nicht. Explizit wird in der
Publikation mehrfach ausgeführt, dass sich die Ergebnisse auch in anderen prädefinierten Subgruppen (nach APACHE*** II-Score vor Beginn der
Studienmedikation und Alter) nicht vom Gesamtergebnis unterscheiden. Konkrete Daten werden aber nicht genannt. Wir vermissen zudem Angaben zur Fallzahl-
Kalkulation und Verblindung der Randomisierung. Bei den Basisdaten zu Risikofaktoren fällt eine klare Tendenz zu Gunsten von Drotrecogin auf.
VORBEHALTE: Wieder einmal (a-t 2001; 32: 87-8, 2002; 33: 1-
2) wurden der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA schon frühzeitig wesentliche zusätzliche Daten zur Verfügung
gestellt,7 die der Originalpublikation nicht zu entnehmen sind und erst jetzt (mit Verzug von 18 Monaten) regulär publiziert werden:8,9Nach
Aufnahme von 720 Patienten wurden die Einschlusskriterien zu Gunsten weniger schwer Erkrankter geändert und kurz darauf die Herstellung des Mittels auf
eine andere Zelllinie umgestellt. Nach FDA-Analysen hatte Drotrecogin vor diesen Änderungen keinen Einfluss auf die Mortalität der Patienten. Die
Änderung der Einschlusskriterien kann die Diskrepanz zum Ergebnis der Gesamtstudie nicht erklären. Warum sich die biologische Aktivität von
Drotrecogin durch die neue Zubereitung offenbar entscheidend besserte, ist trotz intensiver Nachforschungen weiter unklar, lässt aber Zweifel an der
konstanten Qualität des zukünftig produzierten Mittels aufkommen.9
Entgegen den Angaben in der Originalpublikation besitzt der vor Beginn der Studienmedikation erhobene APACHE II-Score nach FDA-Analysen einen hohen
Vorhersagewert für den Nutzen des Mittels. Eine Mortalitätssenkung wird ausschließlich in der prädefinierten Subgruppe von Patienten mit
Werten von mindestens 25 erreicht (von 44% auf 31%, NNT = 8). Bei Werten darunter (52% der Patienten) bleibt die Sterblichkeit unbeeinflusst (19% vs.
19%).9 Weitere, weniger aussagekräftige Kriterien für einen zu erwartenden Nutzen sind Alter über 50 Jahre und Versagen von zwei oder
mehr Organsystemen. Chirurgische Patienten profitieren nicht. Wichtig als Entscheidungshilfe scheint auch, dass 80% der Studienpatienten die Sepsis nicht im
Krankenhaus erworben hatten.8 Das Beraterkomitee der FDA kam bei seiner Beurteilung zu einem unentschiedenen Votum (10:10). Die Zulassung für
schwere Sepsis wurde in den USA mit der Forderung nach weiteren klinischen Studien verbunden.9
Langzeitdaten (z.B. zur Einjahres-Mortalität) wurden bisher nicht mitgeteilt, obwohl die Studie schon seit mehr als zwei Jahren beendet ist. Wichtig wären
auch Vergleiche mit niedrig dosiertem Hydrokortison (HYDROCORTISON HOECHST u.a.), das kombiniert mit Fludrokortison (ASTONIN-H u.a.) bei schwerer Sepsis
mit Schock und relativer Nebenniereninsuffizienz die Sterblichkeit nach 28 Tagen ähnlich (NNT=10) und wahrscheinlich auch langfristig senkt (vgl. a-t 2002; 33: 94).10 Mit der "early goal directed therapy",11einer Strategie frühzeitiger
intensivmedizinischer Interventionen, die durch engmaschiges Monitoring von Herz-Kreislauf- und Beatmungsparametern gesteuert werden, steht ein weiteres
Verfahren zur Verfügung, das die Sterblichkeit von Patienten mit septischem Schock im Krankenhaus und nach 60 Tagen (NNT = 7 bzw. 8) deutlich mindert.
Ob sich die verschiedenen Therapieoptionen kombinieren lassen, ist derzeit unklar.
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Drotrecogin steigert die Blutungshäufigkeit (24,9% vs. 17,7%)1. Die Rate wird durch
zusätzliches Heparin offenbar nicht erhöht. Auch schwerwiegende Blutungen nehmen im Vergleich zum Scheinmedikament zu (3,5% vs. 2,0%, p = 0,06).
Sie verlaufen unter Verum bei vier Patienten tödlich, bei keinem unter Plazebo. Unter Drotrecogin treten dagegen in der Tendenz weniger thrombotische
Ereignisse auf (2,0% vs. 3,0%, p = 0,2). Die Rate schwerwiegender Ereignisse unterscheidet sich insgesamt nicht von Plazebo.6 Intrakranielle Blutungen
werden in der Wirksamkeitsstudie unter Drotrecogin nur gelegentlich beobachtet (0,2%), in einer offenen Anwendung mit gleicher Patientenauswahl und Dosierung
aber bei 2,5%.7,8 Bildung von (nicht neutralisierenden) Antikörpern gegen Drotrecogin ist bei einmaliger Behandlung selten (<1%). Erfahrungen mit
mehrmaliger Anwendung liegen nicht vor.1
KOSTEN: Bei einer Dosis von 24 µ/kg/h kostet die Behandlung eines 75 kg schweren Patienten über vier Tage knapp 10.000 Euro.
Das aktivierte Protein-C-Analog Drotrecogin alpha (XIGRIS) scheint bei
Erwachsenen mit schwerer Sepsis die Mortalität nach 28 Tagen zu senken, wenn ein umfangreicher Katalog von Auswahlkriterien erfüllt ist. Der Nutzen ist
auf Patienten mit APACHE II-Score über 24 begrenzt.
Die Anwendung geht mit erhöhter Rate an Blutungskomplikationen einher.
Daten zur längerfristigen Wirksamkeit und Sicherheit liegen bisher nicht vor.
Zweifel an der gleichbleibenden Qualität des Mittels und die (wieder einmal)
mangelhafte Transparenz bei der Publikation wichtiger Studienergebnisse geben zu Bedenken Anlass.
Die Zulassung ist ein erneutes Beispiel überhasteter
Behördenentscheidungen auf der Grundlage unzureichender Daten. Bis weitere Erkenntnisse vorliegen, halten wir die Verwendung von Drotrecogin nur im
Ausnahmefall für vertretbar.
Für das gleiche Patientenkollektiv stehen mit Hydrokortison
(HYDROCORTISON HOECHST u.a.)/Fludrokortison (ASTONIN-H u.a.) und der "early goal directed therapy" vergleichbar wirksame Alternativen zur
Verfügung.
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PROWESS = Protein C Worldwide Evaluation In Severe Sepsis |
** |
SIRS = Systemic Inflammatory Response Syndrome |
*** |
APACHE = Acute Physiology And Chronic Health Evaluation |
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