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Korrespondenz

SCHÜTZT ANTIKOAGULATION BEI VORHOFFLIMMERN AUCH VOR HERZINFARKTEN?

Einerseits wird behauptet, dass eine Antikoagulation (mit Heparin) kein Ersatz für eine Unterbrechung einer ASS-Therapie z.B. im Rahmen eines operativen Eingriffs darstellt (siehe auch Seite 19, Red.). Andererseits wird empfohlen, Patienten mit Vorhofflimmern und einer koronaren Herzkrankheit (KHK) ausschließlich mit Cumarinen zu antikoagulieren und auf die zusätzliche Gabe von ASS zu verzichten. Wirkt nun die Antikoagulation bei der Infarktprophylaxe oder wirkt sie nicht? Und welchen Stellenwert haben die beiden neuen oralen Antikoagulanzien Dabigatran (PRADAXA) und Rivaroxaban (XARELTO)?

Dr. med. A. MAINZ (Facharzt für Innere Medizin)
D-34497 Korbach
Interessenkonflikt: keiner

Die optimale antithrombotische Therapiestrategie bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern und koronarer Herzkrankheit (KHK) ist unseres Wissens bisher nicht durch adäquate randomisierte Studien geklärt. Orale Antikoagulanzien gehören bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern mit erhöhtem Schlaganfallrisiko nach aktuellen Leitlinien zu Recht zum Standard.1,2 Moderat dosierte Cumarine (INR 2-3) schneiden hier deutlich besser ab als niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika), mit einer Schlaganfallreduktion gegenüber ASS um 38% bis 45%*.3,4 Man wird daher auf orale Antikoagulanzien bei diesen Patienten in aller Regel nicht verzichten wollen. Ob die Kombination von Cumarinen (INR 2-3) mit ASS bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern mehr bringt als Cumarine allein und Schlaganfälle bei vertretbarem Blutungsrisiko weiter reduziert, ist unzureichend untersucht.4 Die einzige randomisierte Studie hierzu wurde wegen mangelnder Rekrutierung vorzeitig gestoppt.5

CUMARINE BEI KHK: Es gilt als belegt, dass Cumarine auch zur Prävention bei KHK effektiv eingesetzt werden können, wenngleich die entsprechenden randomisierten Studien vielfach klein und älter sind und oft mit höheren als heute üblichen Dosierungen durchgeführt wurden.6 Nach Metaanalysen vermindert eine intensive Cumarintherapie (INR 2,8-4,8) gegenüber Plazebo Infarkte und Schlaganfälle signifikant um 40% bis 50% und die Mortalität um gut 20%. Blutungen nehmen jedoch um das Fünffache zu.7 Spärlicher, aber ähnlich, sind die Daten für die moderat dosierte Cumarintherapie (INR 2-3): Infarkt- und Schlaganfallraten werden um etwa die Hälfte reduziert und Blutungen nehmen um das Siebenfache zu. Verhinderte Gefäßereignisse und ausgelöste Blutungen halten sich weitgehend die Waage, die Mortalität bleibt unbeeinflusst. In Vergleichen von moderaten bis intensiven Cumarintherapien (INR 2-4,8) mit niedrig dosierter ASS bei KHK-Patienten unterscheiden sich die Infarkt- und Schlaganfallraten nicht signifikant. Blutungen sind unter den Cumarinen aber etwa doppelt so häufig.7

Cumarine (INR 2-3) kombiniert mit ASS verringern nach Infarkten oder akuten Koronarsyndromen, die nicht interventionell behandelt wurden, gegenüber ASS allein die Infarktrate signifikant um 44% und die Schlaganfallrate um 54%. Blutungen nehmen zwar auf das 2,5-Fache zu. Patienten mit niedrigem Blutungsrisiko profitieren aber in der Summe von der Kombination, Patienten mit moderatem Blutungsrisiko nur bei hohem Infarktrisiko.8 In der ACCP**-Leitlinie wird die Kombination aus Cumarinen (INR 2-3) und niedrig dosierter ASS als Option bei KHK genannt, und zwar für den Fall, dass engmaschige INR-Kontrollen gewährleistet sind und Expertise mit der Cumarintherapie vorhanden ist oder falls gleichzeitig Risiken für systemische Embolien vorliegen wie schwere Herzinsuffizienz, intrakardiale Thromben oder Vorhofflimmern.6 Letztere Empfehlungen beruhen aber auf Analogieschlüssen, da entsprechende randomisierte Studien beispielsweise bei Patienten mit KHK und nichtvalvulärem Vorhofflimmern bisher nicht durchgeführt wurden. Andere Leitlinien erwähnen die Kombination als Option bei KHK nicht.9,10

CUMARINE MIT ODER OHNE ASS BEI NICHTVALVULÄREM VORHOFFLIMMERN UND KHK: In den Studien zur Prävention von Schlaganfällen bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern mindern Cumarine (INR 2-3) gegenüber ASS auch Infarkte um 37% und kardiovaskuläre Ereignisse insgesamt um 29%.3 Im Vergleich zu ASS plus Clopidogrel (PLAVIX, Generika) treten ebenfalls 37% weniger Infarkte auf.11 In den Studien litten 14% bis 28% der Teilnehmer gleichzeitig an einer KHK.3,11-14 Subgruppenanalysen für genau diese Patienten mit Vorhofflimmern und KHK bieten weder die Studien selbst noch entsprechende Metaanalysen. Es ist anzunehmen, aber nicht bewiesen, dass Cumarine bei diesen Patienten Infarkte relativ wie im Gesamtkollektiv reduzieren, absolut wegen des höheren Grundrisikos womöglich noch deutlicher.

Auch dann bliebe unklar, ob zusätzliche ASS von weiterem Vorteil ist. Autoren zweier systematischer Übersichten beklagen die ungenügende Datenlage zur Nutzen-Schaden-Relation der Kombination aus moderat dosierten Cumarinen (INR 2-3) und ASS bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern gegenüber Cumarinen allein und raten von der Verwendung ab.15,16 Beim derzeitigen Kenntnisstand erscheint es somit sinnvoll, bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern und KHK, solange beispielsweise wegen Stents keine spezielle antithrombotische Therapie nötig ist (vgl. a-t 2009; 40: 69-71), nur Cumarine zu verordnen und auf zusätzliche ASS zu verzichten. Ausnahme könnten Patienten mit niedrigem Blutungs- und hohem Infarktrisiko darstellen.

NEUE ORALE ANTIKOAGULANZIEN: Auch die neuen oralen Antikoagulanzien bieten hier keine Vorteile. Dabigatran (PRADAXA) erhöht in RE-LY*** bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern die Infarktrate gegenüber Warfarin (COUMADIN) numerisch um knapp 30% (a-t 2011; 42: 74-7).12 Ob ein fehlender oder geringerer präventiver Effekt der Grund ist oder ob Dabigatran das Infarktrisiko sogar erhöht, ist derzeit unklar. Eine Metaanalyse randomisierter Vergleiche gegenüber Warfarin, Enoxaparin (CLEXANE) oder Plazebo in verschiedenen Indikationen findet eine konsistente, signifikante Zunahme akuter Koronarereignisse um 33%.17 Nach post hoc vom Hersteller veranlassten Analysen von RE-LY steigt das relative Infarktrisiko bei Patienten ohne KHK in gleichem Maße wie bei Patienten mit KHK, deren Grundrisiko aber dreifach höher ist. Absolut träten bei vorbestehender KHK pro 1.000 Patientenjahre unter Dabigatran gegenüber Warfarin etwa fünf Schlaganfälle weniger, aber vier Infarkte mehr auf.18 Für Rivaroxaban (XARELTO) ist bisher keine Zunahme der Infarkte berichtet. Es mindert bei Vorhofflimmern jedoch auch die Schlaganfallrate nicht besser als Warfarin (a-t 2012; 43: 2-4, 11-2).13 Gilt es zwischen Dabigatran und Rivaroxaban bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern und KHK abzuwägen, sollte neben den individuellen Schlaganfall- und Infarktrisiken auch die Einstellung der Patienten gegenüber den Krankheitsereignissen berücksichtigt werden. Die sinnvollste Option dürften bei diesen Patienten jedoch Cumarine unter sorgsamer Kontrolle der INR-Werte und Verzicht auf zusätzliche ASS darstellen.

∎  Die optimale antithrombotische Therapie bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern und koronarer Herzkrankheit (KHK) ist unklar.

∎  Beim derzeitigen Kenntnisstand sind bei Patienten mit erhöhtem Schlaganfallrisiko aufgrund von nichtvalvulärem Vorhofflimmern und gleichzeitiger KHK moderat dosierte Cumarine (INR 2-3) Mittel der Wahl, eine Kombination mit ASS ist in der Regel nicht notwendig.

∎  Die neueren Antikoagulanzien Dabigatran (PRADAXA) und Rivaroxaban (XARELTO) bringen in dieser Situation keine Vorteile gegenüber Cumarinen.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 FURIE, K.L. et al.: Stroke 2011; 42: 227-67
2 SINGER, D.E. et al.: Chest 2008; 133: S546-92
M  3 Van WALRAFEN, C. et al.: JAMA 2002; 288: 2441-8
M  4 HART, R.G. et al.: Ann. Intern. Med. 2007; 146: 857-67
R  5 LECHAT, P. et al.: Cerebrovasc. Dis. 2001; 12: 245-52
6 BECKER, R.C. et al.: Chest 2008; 133: S776-814
M  7 ANAND, S.S. et al.: JAMA 1999; 282: 2058-67
M  8 ROTHBERG, M.B. et al.: Ann. Intern. Med. 2005; 143: 241-50
9 FRAKER, T.D. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2007; 50: 2264-74
10 FOX, K. et al.: Eur. Heart J. 2006; 27: 1341-81
R  11 ACTIVE-W Investigators: Lancet 2006; 367: 1903-12
R  12 CONNOLLY, S.J. et al.: N. Engl. J. Med. 2009; 361: 1139-51
R  13 PATEL, M.R. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 365: 883-91
R  14 GRANGER, C.B. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 365: 981-92
M  15 LARSON, R.J., FISHER, E.S.: J. Gen. Intern. Med. 2004; 19: 879-86
M  16 DENTALI, F. et al.: Arch. Intern. Med. 2007; 167: 117-24
M  17 UCHINO, K., HERNANDEZ, A.V.: Arch. Intern. Med., published online January 9, 2012. doi:10.1001/archinternmed.2011.1666
18 HOHNLOSER, S.H. et al.: Circulation 2012, online publ. am 9. Jan. 2012

* Alle Zahlenangaben zu Risikoreduktionen und -steigerungen in diesem Text sind, wenn nicht ausdrücklich anders bezeichnet, relative Reduktionen bzw. Anstiege, da sie zumeist aus Metaanalysen stammen.
** ACCP = American College of Chest Physicians
*** RE-LY = Randomized Evaluation of Long Term Anticoagulation TherapY

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 10. Februar 2012

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