Die sogenannte diabetische Gangrän galt lange Zeit als unvermeidliche Folge der diabetischen Stoffwechsellage, die Amputation möglichst
weit im gesunden Gewebe als Therapie der Wahl. In der Deklaration von St. Vincente von 1989 forderte die Weltgesundheitsorganisation, die hohen
Amputationszahlen - in Deutschland jährlich zwischen 23.000 und 28.000 - innerhalb von fünf Jahren zu halbieren. In erster Linie gilt es, die über die
Vorfußamputation hinausgehenden Majoramputationen zu vermeiden, die mit hoher perioperativer Sterblichkeit und häufig mit dauerhafter
Pflegebedürftigkeit einhergehen. Die Zielvorgabe der WHO wurde hierzulande flächendeckend bisher nicht erreicht.1
Nach längerem Bestehen des Diabetes mellitus bringen vor allem zwei Folgeerkrankungen eine erhöhte Verletzungsgefahr für die Füße mit
sich: die diabetische Polyneuropathie und die periphere arterielle Verschlusskrankheit. Zu über 70% entsteht das diabetische Fußsyndrom auf dem Boden
einer Polyneuropathie, teilweise bei gleichzeitig bestehender Makroangiopathie. Rein ischämisch bedingte Läsionen werden mit 13% bis 25%
angegeben.2,3
NEUROPATHISCH-INFIZIERTER FUSS: Die diabetische Polyneuropathie entwickelt sich meist symmetrisch von distal nach proximal. Füße sind
eher betroffen als Hände. Im Rahmen der sensiblen Neuropathie sind Schmerz-, Temperatur- und Lageempfinden gestört. Die vegetativ gesteuerte
Schweißdrüsenfunktion erlischt: die Haut wird trocken und rissig. Die Gefäße sind bei Ausfall der autonomen Regulation maximal weitgestellt, die
Füße daher rosig und warm und die Pulse gut tastbar. Bedingt durch die motorische Neuropathie atrophiert die Fußmuskulatur, es bilden sich
Krallenzehen aus - eine Deformierung, die mit hoher Druckbelastung im Bereich der Ballen einhergeht. Entscheidend für die Entstehung des typischen Ulkus in
diesem Bereich (Mal perforans) ist aber die Schmerzlosigkeit. Der Patient bemerkt den überhöhten Druck nicht und belastet den Fuß weiter.
Auch Verletzungen durch Fremdkörper im Schuh oder zu enge Schuhe werden nicht wahrgenommen. Es entwickeln sich Schwielen, darunter Blasen, die
einreißen, einbluten und bakteriell besiedelt werden können.
Bei fehlender Entlastung kann sich die Infektion auf tiefer gelegene Gewebe einschließlich Knochen und Gelenke ausbreiten. Durch die entzündliche
Schwellung wird die Blutversorgung der Zehen gestört. Es entsteht die neuropathische Gangrän, typischerweise bei erhaltenen kräftigen
Fußpulsen. Auf Überbeanspruchung bei fehlendem Schmerzempfinden wird auch die diabetische Osteopathie (CHARCOT-Fuß)
zurückgeführt: Es kommt zu Ermüdungsfrakturen und schließlich zum Zusammenbruch des Fußgewölbes.
ISCHÄMISCH-MAKROANGIOPATHISCHER FUSS: Zuckerkranke haben ein zwei- bis dreifach höheres Risiko der peripheren arteriellen
Verschlusskrankheit (PAVK) als Nichtdiabetiker. Der Fuß ist kühl, blass bis livide, Schmerzempfinden und Schweißsekretion sind erhalten.
Fußpulse lassen sich nicht oder nur schwach tasten. Bagatellverletzungen rufen schlecht heilende Wunden hervor, weil die Sauerstoffversorgung dem
erhöhten Bedarf nicht angepasst werden kann. Die Läsionen sind typischerweise an den Akren lokalisiert. Nekrosen breiten sich wesentlich schneller aus
als bei neuropathisch bedingten Verletzungen. Fußläsionen bei gleichzeitigem Vorliegen von Neuropathie und PAVK haben eine besonders
ungünstige Prognose.2
DIAGNOSE: Die Diagnostik bei Fußverletzungen des Diabetikers soll den möglichen Ursachen Rechnung tragen. Zur Erfassung einer
Polyneuropathie genügen einfache klinische Untersuchungen. Geprüft wird der Reflexstatus (die Muskeleigenreflexe sind bereits im Frühstadium
abgeschwächt oder aufgehoben), das Vibrationsempfinden mit Stimmgabel und das Druckempfinden mit SEMMES-WEINSTEIN-Filament*.4
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Nylonfäden unterschiedlicher Dicke, die sich bei definierten Drucken biegen und eine abgestufte Messung der
Druckempfindung ermöglichen.
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Fußverletzungen bei PAVK gehen mit hohem Amputationsrisiko einher. Von entscheidender Bedeutung ist daher die Klärung der Durchblutung. Der
Fuß kann als ausreichend durchblutet gelten, wenn mindestens ein Fußpuls tastbar ist. Einfache weiterführende Methode bei unklarem Tastergebnis
ist die Doppler-Ultraschalluntersuchung. Ein systolischer Druck in den Knöchelarterien unter 60 mm Hg weist auf bedrohliche Durchblutungsstörung hin.
Nur vor einer geplanten Revaskularisierung oder Amputation ist die arterielle Angiographie angezeigt.4 Ohne eine gefäßchirurgische Beurteilung
darf eine Majoramputation nicht mehr durchgeführt werden.5
Hohe Knöchelarteriendrucke im Doppler-Ultraschall bei klinischem Verdacht auf PAVK können durch die bei Diabetikern häufige
MÖNCKEBERG-Sklerose bedingt sein, eine Verkalkung der Arterienmuskulatur mit verhärteten, wenig komprimierbaren Gefäßwänden. Die
Sklerose lässt sich auf dem Röntgenbild erkennen. Das Röntgenbild hilft auch bei der Diagnose von Brüchen oder Osteolysen.
Der Schweregrad der Fußverletzung wird heute international nach WAGNER eingestuft (Tabelle). Die Lokalisation kann Hinweis geben auf neuropathische
(Fußsohle) oder ischämische (Zehenspitzen) Ursachen. Alle Hautverletzungen am Fuß sind als bakteriell kontaminiert anzusehen. Ein Abstrich - aus
der Tiefe der Wunde - ist erforderlich bei ineffektiver Vorbehandlung oder Verdacht auf nosokomiale Infektion. Unbehandelte Infektionen sind meist durch
grampositive Kokken verursacht. Bei tieferen und länger bestehenden Läsionen kommen gramnegative Keime und Anaerobier hinzu.
THERAPIE: Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die ungestörte Wundheilung ist die konsequente Druckentlastung mit
Gehstützen, Rollstuhl oder Bettruhe. Die Patienten müssen wissen, dass selbst gelegentliches Auftreten auf ein Plantarulkus die Abheilung verhindert.
Auch der CHARCOT-Fuß bessert sich durch mehrmonatige Entlastung.2
Die lokale Wundbehandlung mit Wundreinigung, Ableitung von Sekret oder Eiter, Abtragung von Schwielen oder Nekrosen richtet sich nach dem Stadium
der Verletzung. Diabetiker mit Fußverletzungen sollen möglichst frühzeitig (ab WAGNER-Stadium I, wenn die Wundheilung nicht ungestört
verläuft) in eine spezialisierte Behandlung wie diabetologische Schwerpunktpraxis oder Fußambulanz überwiesen werden.
Die meisten Fußläsionen bei Diabetes sind infiziert und benötigen Antibiotika. Bei nicht vorbehandelten Infektionen bringt die empirische
Therapie mit einem Cephalosporin per os wie Cefalexin (ORACEF u.a., viermal 500 mg/Tag, 86%) oder dem Lincosamid-Antibiotikum Clindamycin (SOBELIN u.a.,
viermal 300 mg/Tag, 96%) hohe Besserungs- oder Heilungsraten.7 Clindamycin oder ein Cephalosporin der ersten Generation werden auch für die
Osteomyelitis empfohlen.8,9 Zeigt sich nach mehrtägiger Therapie trotz konsequenter lokaler Wundbehandlung und Druckentlastung keine Besserung
- am besten zu beurteilen am Fortschreiten oder Rückgang der infektassoziierten Hautrötung -, wird das Antibiotikum entsprechend Antibiogramm
umgestellt.
Eine strengere Blutzuckereinstellung ist nicht grundsätzlich erforderlich. Der HbA1c-Wert hat in einer Untersuchung keinen Einfluß auf die
Ulkusheilung.10
Bei Fußverletzungen auf dem Boden einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit soll möglichst rasch eine optimale Durchblutung wiederhergestellt
werden. Die Methoden der Gefäßrekonstruktion richten sich nach Ausmaß und Lokalisation der AVK. Das verhältnismäßig
aufwendige In-situ-Bypass-Verfahren mit Umkehr des Blutflusses in der Beinvene hat die Prognose anscheinend verbessert.2
Nicht immer lassen sich Amputationen vermeiden. Erstes Ziel der Therapie ist der Erhalt einer funktionsfähigen Extremität. Operative Eingriffe
werden möglichst elektiv durchgeführt, im Regelfall erst nach Kontrolle der Infektion, so dass ein primärer Wundverschluss angestrebt werden kann.
Bei neuropathisch bedingter Gangrän soll das nekrotische Gewebe möglichst sparsam entfernt werden. Das Ausmaß der Amputation bei
ischämisch bedingten Nekrosen richtet sich danach, inwieweit eine Revaskularisierung möglich ist.
BEHANDLUNGSPRINZIPIEN OHNE HINREICHEND NACHGEWIESENEN NUTZEN: Eine spezifische medikamentöse Prophylaxe oder Behandlung
des diabetischen Fußsyndroms gibt es nicht. Aussagekräftige Studien mit Alpha-Liponsäure (THIOCTACID u.a.), die einen klaren, über den
hohen Plazeboeffekt hinausgehenden Nutzen bei diabetischer Neuropathie belegen, fehlen (a-t 3 [1994], 26; 11 [1996], 107). Dies gilt auch für sogenannte Durchblutungsförderer wie Ginkgo-biloba-Extrakt (TEBONIN
u.a.) oder Pentoxifyllin (TRENTAL u.a.). Intravenöses Alprostadil (PROSTAVASIN) birgt erhebliche Risiken, ohne dass nach derzeitigem Kenntnisstand ein
relevanter Nutzen zu erwarten ist. Todesfälle sind beschrieben (a-t 1 [1991], 7; 12 [1995], 113). Die Wirksamkeit von hyperbarem Sauerstoff bei diabetischer Gangrän bleibt zu klären.11 Ein
überholtes Therapieprinzip ist die Sympathektomie. Kontrollierte Studien zum Nutzenbeleg fehlen.12 Die diabetische Polyneuropathie geht meist ohnehin mit
Ausfall der autonomen Regulation einher.
PROPHYLAXE: Entscheidende Bedeutung kommt der Prävention zu. Diabetespatienten sollen mindestens einmal jährlich auf erhöhte
Gefährdung für Fußverletzungen untersucht werden. Dafür wird ein einfaches standardisiertes Screening-Verfahren empfohlen. Die
Füße einschließlich der Zehenzwischenräume werden gründlich inspiziert.13 Auf Hautinfektionen ist zu achten. Fußpilz kann
zum Ausgang für gefährliche bakterielle Weichteilinfektionen werden und ist deshalb zu behandeln. Die Fußpulse werden palpiert, bei unklarem
Befund ggf. mit Doppler-Ultraschall untersucht. Mit Reflexhammer, Stimmgabel und SEMMES-WEINSTEIN-Filament wird nach einer diabetischen Neuropathie
gefahndet.13
Diabetiker mit peripherer Neuropathie oder arterieller Verschlusskrankheit sollen die Füße einschließlich der Zehenzwischenräume einmal
täglich untersuchen (lassen), um Wunden und Infektionen rechtzeitig zu erkennen. Ein Spiegel hilft, die Fußsohlen zu betrachten. Jede Wunde muss
unverzüglich ärztlich behandelt werden. Barfußgehen und Wärmflaschen (Verbrennungsgefahr bei fehlendem Temperaturempfinden) sind tabu.
Die Nägel werden nicht geschnitten, sondern gefeilt, Hornhaut mit einem Bimsstein entfernt. Diabetiker mit ausgeprägter Neuropathie sollen die
Fußpflege ausgebildeten Fußpflegern überlassen. Eine Liste mit Fußpflegern, die für die Behandlung von Diabetikern qualifiziert sind, gibt es
beim Zentralverband der Med. Fußpfleger Deutschlands, Hauptgeschäftsstelle, Johannisstr. 12, 58452 Witten, Tel. 02302/ 83781, Fax
02302/88537.
Die Schuhe sollen ausreichend groß und bequem sein und täglich nach Fremdkörpern ausgetastet werden. Für die Prophylaxe des
neuropathischen Ulkus sind konfektionierte Spezialschuhe, die durch weiches Oberleder, Polsterung und Fußbettung Druck vermeiden bzw. verteilen, von
entscheidender Bedeutung. Konsequentes Tragen dieser Schuhe senkt in einer Beobachtungsstudie die Rückfallrate um mehr als 50%.14
UMSETZUNG DER DEKLARATION VON ST. VINCENTE: In Deutschland wurde die Forderung der WHO nach Halbierung der Amputationsraten bei
Diabetikern bisher nicht eingelöst. Diabetologen fordern seit langem eine flächendeckende interdisziplinäre Versorgung betroffener Patienten, um
dieses Ziel zu erreichen.15 In einer bevölkerungsbezogenen Studie in Schweden sank die Zahl der Majoramputationen um 75%, nachdem ein
spezialisiertes, interdisziplinäres Team, das eng mit den Primärärzten einerseits, mit gefäßchirurgischen und infektiologischen Abteilungen
andererseits kooperiert, seine Arbeit aufgenommen hat.16 Hierzulande würden als Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Behandlung etwa
500 sogenannte Fußambulanzen benötigt.
FAZIT: Fehlendes Schmerzempfinden bei diabetischer Polyneuropathie einerseits und Durchblutungsstörungen bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit
andererseits prädisponieren Patienten mit meist länger bestehendem Diabetes mellitus für Verletzungen der Füße. Die diabetische
Gangrän mit Amputation von Fuß oder Bein sollte kein unvermeidliches Schicksal mehr sein. Entscheidende Bedeutung kommt der Vorbeugung von
Fußverletzungen, der konsequenten Fußpflege und dem Tragen geeigneter Schuhe, u.U. konfektionierter Spezialschuhe, zu. Ein einfaches
regelmäßiges Screening hilft, gefährdete Patienten zu erfassen. Diabetiker mit Fußverletzungen müssen frühzeitig einer spezialisierten
Behandlung (diabetologische Schwerpunktpraxis, Fußambulanz) zugeführt werden. Es mangelt in Deutschland nach wie vor an spezialisierten,
interdisziplinären Einrichtungen wie Fußambulanzen, die für eine optimale Versorgung dieser Patienten dringend erforderlich sind.
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