Seit einem Jahr schüren Schlagzeilen wie "Grippe endlich besiegt"1 Erwartungen in eine neue Arzneimittelgruppe. Die Werbung
spricht jetzt sogar von "großer Revolution".2 Man könnte fast glauben, dass Influenza-Infektionen bald der Vergangenheit
angehören - die Virusgrippe, die mit plötzlichem hohen Fieber über 39 Grad Celsius, Schüttelfrost, Gliederschmerzen,
Schweißausbrüchen, allgemeiner Schwäche, Kopf- und Halsschmerzen oder Husten einhergeht sowie ihre gefürchteten Komplikationen wie
primäre Influenza-Pneumonie oder Tod. Die Mehrheit der Erkältungen und "Grippeerkrankungen" wird dagegen nicht durch Influenzaviren,
sondern durch andere Virustypen wie Rhinoviren, Echoviren oder Adenoviren hervorgerufen.
THERAPIE: Als erster Neuraminidase-Hemmer ist seit Anfang Oktober Zanamivir (RELENZA) auf dem Markt, in Deutschland ausschließlich zur
Therapie der Virusgrippe A und B. Er hemmt das Virusenzym Neuraminidase, das für die Freisetzung von Viren aus infizierten Zellen erforderlich ist, und soll so
die Ausbreitung des Influenza-Erregers in den Atemwegen verhindern. Wegen geringer oraler Bioverfügbarkeit muss Zanamivir inhaliert werden. Zweimal
tägliche Inhalationen, mit denen innerhalb von 48 Stunden nach den ersten Influenzasymptomen begonnen werden muss, können die Dauer von
Beschwerden um etwa einen Tag verkürzen (im Mittel von 6 auf 5 Tage).3-5 Je früher Zanamivir inhaliert wird und je kränker der Patient ist,
umso stärker ist der mögliche Effekt. Zu Krankheitsbeginn lässt sich aber eine Influenza häufig noch nicht von anderen Atemwegsinfektionen
abgrenzen. Insbesondere wenn keine Epidemie besteht, sind kostenträchtige Fehlverordnungen (knapp 60 DM pro Behandlung, siehe Kasten) mögliche
Folge.
Die Häufigkeit von Folgeerkrankungen wie Bronchitis und Pneumonie soll sich durch Zanamivir bei Risikopatienten verringern (a-t 11 [1998], 104).4 Allerdings liegen nur sehr wenig Daten zu stärker gefährdeten Patienten vor. Eine
Senkung der Mortalität, wie sie für die Impfprophylaxe nachgewiesen ist,6 ist für Zanamivir jedoch nicht untersucht.7
An den Belegen zum Nutzen kommen Zweifel auf: In zwei der drei genannten Wirksamkeitsstudien bleibt Zanamivir ohne Effekt, wenn mehr als 30 Stunden
zwischen Krankheitsbeginn und erster Inhalation liegen.3,5 In der dritten Untersuchung sind nur Patienten bis 36 Stunden nach Symptombeginn
eingeschlossen. Bei dieser Datenlage lässt sich nicht nachvollziehen, warum in der Zulassung der Therapiebeginn bis auf 48 Stunden nach den ersten
Symptomen ausgedehnt wurde. Die mit über 1.200 Teilnehmern größte der drei veröffentlichten Studien eignet sich zudem nicht zur
Absicherung der Wirksamkeit, weil dort Zanamivir neben der jetzt zugelassenen Inhalation zusätzlich als Nasenspray angewendet wurde.5
Die wenigen bislang veröffentlichten Studien kranken daran, dass sie vorwiegend an relativ gesunden Personen durchgeführt wurden. Sie erlauben daher
gerade für Risikopatienten, die durch Virusgrippe besonders gefährdet sind, keinen eindeutigen Rückschluss auf einen Nutzen.5,6 Zudem
ist nicht ausreichend untersucht, wie gut ältere Menschen das Inhalationsgerät handhaben können. Ausgehend von Erfahrungen mit Asthmatikern,
die erstmals eine Inhalationszubereitung gebrauchen, sind Fehlanwendungen absehbar.
Häufige Störwirkungen des Pulverinhalats sind Durchfall (3%), Übelkeit (3%), Erbrechen (1%) und Kopfschmerzen (2%).8
Resistenzentwicklung ist beschrieben.9 Patienten mit Atemwegserkrankungen wie Asthma bronchiale oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung sind
bei der Inhalation durch Luftnot und Zunahme der Obstruktion gefährdet. Sie sollen einen schnell wirkenden Betaagonisten als Notfallmedikation bei sich
führen, wenn sie Zanamivir inhalieren.8
In der Schweiz steht ein weiterer Neuraminidase-Hemmer zur Verfügung, das oral einzunehmende Oseltamivir (TAMIFLU). Die Wirksamkeit scheint der von
Zanamivir zu entsprechen.10 Direkte Vergleichsstudien fehlen allerdings.
Ebenso fehlen Vergleiche von Neuraminidase-Hemmern mit dem auch in der PARKINSON-Therapie verwendeten Amantadin (INFEX u.a.). Dieses war
bislang das einzige Virustatikum, das hierzulande zur Frühtherapie der Influenza verwendet werden konnte. Es wirkt jedoch wie das beispielsweise in den USA
erhältliche Rimantadin (FLUMADINE) ausschließlich gegen den Typ A. Beide behindern die intrazelluläre Vermehrung des Virus.
Wird Amantadin innerhalb von 48 Stunden nach Krankheitsbeginn eingenommen, verkürzt sich die Fieberdauer im Vergleich zu Plazebo ebenfalls um einen
Tag. Innerhalb weniger Tage ist allerdings bei bis zu einem Drittel der Behandelten mit resistenten Influenzaviren zu rechnen. Deren klinische und epidemiologische
Relevanz ist unklar.11 Magen-Darm-Störungen bei bis zu 10% der Anwender und teilweise schwerwiegende zentralnervöse Effekte wie
Depression (bis 5%), Halluzinationen (bis 5%) und Krampfanfall (bis 0,1%), insbesondere bei Patienten mit Begleiterkrankungen, schränken die Anwendbarkeit
zusätzlich ein.
PROPHYLAXE: Strategie der Wahl bleibt die Prophylaxe. Für diese Indikation ist Zanamivir in Deutschland nicht zugelassen, jedoch in der
Schweiz. Geringe Erfahrungen, unzureichende Dokumentation und die hohen Kosten sprechen derzeit gegen die Anwendung. Nach den Ergebnissen der einzigen
veröffentlichten plazebokontrollierten Studie zur Prophylaxe überwiegend bei gesunden Collegestudenten müssten 25 Personen den
Neuraminidase-Hemmer vier Wochen lang inhalieren, um eine einzige Erkrankung an Virusgrippe verhindern zu können (Number Needed to Treat [NNT] = 25,
vgl. a-t 5 [1998], 47).12
Auch für die Prophylaxe fehlen Vergleiche von Zanamivir mit Amantadin. Im Rahmen einer Influenza-A-Epidemie verhindert Amantadin bei 63%
gesunder Erwachsener oder Jugendliche eine Erkrankung und ist damit etwas weniger wirksam als die Influenza-Impfung mit 70% bis 90%.11,13 Mit dem
Virustatikum lässt sich bei Gefährdeten die Zeit bis zum Wirksamwerden der Impfung überbrücken: Für die Prophylaxe mit Amantadin
während einer Influenza-A-Epidemie liegt die NNT bei 5.
Die Influenza-Impfung (BEGRIVAC u.a.) bleibt die verträglichste und preiswerteste Prophylaxemaßnahme. Ein Schutz setzt ein bis zwei Wochen
nach der Impfung ein, ist aber auch nicht vollständig. So können neue Varianten der Viren entstehen (Antigen-Drift, -Shift), die nicht durch die vor der
Saison durch Experten der Weltgesundheitsorganisation festgelegte Antigenzusammensetzung der Vakzine erfasst werden. Am besten wird im Oktober/November
geimpft, damit die Vorsorgemaßnahme die gesamte Saison abdeckt.
Die Impfung ist vor allem für Ältere und chronisch Kranke angebracht (chronische Herz- oder Atemwegserkrankung, Diabetes mellitus, chronische
Anämie, angeborene oder erworbene Immunschwäche u.a.). Auch Gesunde ab 65 Jahren profitieren,6 ferner beruflich Exponierte wie
medizinisches Personal. Die Impfung scheint bei Älteren unabhängig von weiteren Grunderkrankungen die Wahrscheinlichkeit von
Krankenhausaufnahmen und Mortalität auf Grund von Influenza, Pneumonie und anderen akuten und chronischen Atemwegserkrankungen zu verringern. Bei
gesunden Älteren reduziert die Prophylaxe die Zahl der Klinikeinweisungen wegen Influenza und Pneumonie (von 4,4 auf 2,2 pro 1.000 Personen) sowie die
Gesamtsterblichkeit etwa um die Hälfte.6
Die Nutzenbelege beruhen überwiegend auf Kohorten- und Fallkontrollstudien. Randomisierte plazebokontrollierte Untersuchungen mit den klinischen
Endpunkten Mortalität oder schwere Komplikationen der Influenza finden wir nicht. Auf Grund der ausreichenden Datenlage zur Effektivität der Impfung
bei Älteren werden derartige Studien als unethisch erachtet.15
Bislang wird in Deutschland nur jeder Dritte mit hohem Krankheitsrisiko geimpft.16 Von in Entwicklung befindlichen Influenza-Impfstoffen per
Nasenspray17 erhofft man sich eine bessere Akzeptanz der Vorsorgemaßnahme.
Im Zuge der von amerikanischen und europäischen Medizinbehörden geforderten Eliminierung von Quecksilber aus Arznei- und Nahrungsmitteln steht
hierzulande erstmals eine Thiomersal-freie Vakzine (BEGRIVAC 1999/2000, enthält jedoch noch Formaldehyd) zur Verfügung. Andere Hersteller wollen
nachziehen.
Für Patienten mit Allergie gegen Hühnereiweiß gilt die Impfung als kontraindiziert. Enthält der Impfstoff weniger als 1,2 µg/ml
Eiweiß, scheinen Überempfindlichkeitsreaktionen bei Allergikern jedoch selten zu ein.18 Nach dem Europäischen Arzneibuch dürfen Influenza-
Impfstoffe pro Dosis höchstens 1 µg Eialbumin enthalten. Dies entspricht 2 µg/ml. Von den Impfstoff-Herstellern erhalten wir auf Anfrage keine
konkreten Angaben zum Eiweißgehalt aktueller Produkte. Nach einer Untersuchung von sechs Influenzaimpfstoffen der Saison 1994/95 beträgt die
Eieralbuminkonzentration maximal 0,65 µg/ml.19 Unter Abwägung von Nutzen und Risiken kann die Impfung bei bestehender Allergie vertretbar
sein, wobei die Dosis sicherheitshalber auf zwei Injektionen aufgeteilt wird (1/10 und 9/10 der Gesamtdosis in halbstündigem Abstand,18 s. auch a-t 9 [1994], 88). Nicht geprüft ist, ob wiederholte Impfungen die Allergiegefährdung erhöhen.
FAZIT: Der Neuraminidase-Hemmer Zanamivir (RELENZA) ist in Deutschland nur zur Frühbehandlung der Virusgrippe (Typ A und B) zugelassen. Nur bei
Inhalation innerhalb von 36 Stunden nach Symptombeginn kann er bei ansonsten gesunden Erwachsenen die Dauer von Krankheitsbeschwerden um einen Tag
verkürzen. Es mangelt jedoch an Erfahrungen gerade für den durch Influenza besonders gefährdeten Personenkreis, chronisch Kranke und
Ältere. Auch fehlen Belege für einen Einfluss auf die Mortalität. Somit bleibt von der "Revolution" nichts therapeutisch wesentliches
übrig - außer der Belastung des Budget. In Großbritannien darf Zanamivir deshalb - so der Stand bei Redaktionsschluss - nicht zu Lasten des National
Health Service verordnet werden.20
Effektivste und kostengünstigste Maßnahme zur Prophylaxe bleibt die sogenannte Grippeimpfung (BEGRIVAC u.a.). Bei Ausbruch einer Influenza-A-
Epidemie lässt sich die Gefährdungszeit mit Amantadin (INFEX u.a.) für nicht oder erst vor wenigen Tagen Geimpfte sowie für Patienten mit
Abwehrschwäche, die häufig keinen ausreichenden Impfschutz entwickeln, überbrücken. Zanamivir ist in Deutschland hierfür nicht
zugelassen.
Bei allen genannten Prophylaxe- und Therapieregimen darf nicht vergessen werden: Gegen "banale", oft als "Grippe" bezeichnete
Erkältungen helfen sie nicht.
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