HARTENBACH: „DIE CHOLESTERIN-LÜGE”
… Zum aktuellen Stand der Debatte um die Cholesterinsenkung
Unter meinen Patienten sorgt Prof. HARTENBACHs Buch „Die Cholesterin-Lüge” für einige Verwirrung. Nachdem ich das Buch selbst gelesen habe und mich einige Aussagen durchaus nachdenklich gestimmt haben, bitte ich um Ihre Einschätzung.
Dr. med. A. KANSY (Facharzt für Allgemeinmedizin)
D-95632 Wunsiedel
Interessenkonflikt: keiner
Wie der Buchtitel „Die Cholesterin-Lüge. Das Märchen vom bösen Cholesterin” nahelegt, ist Walter HARTENBACH ein Gegner der Cholesterinsenkung, und zwar jedweder Art. Eine Buchbesprechung ist im a-t unüblich und soll auch hier nicht folgen. Da uns in den vergangenen Jahren aber immer wieder Anfragen zu dem Bestseller, der 2012 in 32. Auflage erschienen ist,1 erreichten, erscheint es uns angebracht, vor dem Hintergrund der HARTENBACHschen Position den aktuellen Stand der Debatte zur Cholesterinsenkung zu beleuchten: HARTENBACH gründet sein Veto nämlich auf einen veralteten Diskussionsstand und simplifiziert die Kontroverse bisweilen bis zur Unkenntlichkeit.
Vor etwa 20 Jahren wurde um die bevölkerungsweite Cholesterinsenkung, die sowohl in den USA als auch in Europa in Leitlinien2,3 empfohlen wurde, eine intensive kontroverse Diskussion geführt. Einer ihrer Exponenten in Deutschland war beispielsweise der 2002 verstorbene Düsseldorfer Diabetologe Michael BERGER.4 Mit Recht verwiesen die damaligen Kritiker der Primärprävention mit Lipidsenkern auf die bedenklichen Ergebnisse aus Studien und Metaanalysen. Die Senkung der koronaren Sterblichkeit, die mit den vor der Statin-Ära verfügbaren Therapieoptionen erreicht wurde, wurde durch einen Anstieg der nichtvaskulären Sterblichkeit mehr als wettgemacht.5 Aus dieser Diskussion Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zieht HARTENBACH seine Argumentation, wenn man bei der unbekümmerten Mischung aus Behauptungen und Zitaten überhaupt von Argumentation sprechen will. Den Fortgang der Erkenntnis und der Debatte nimmt der Autor jedenfalls nicht mehr zur Kenntnis. Von den großen Statinstudien, die seit Mitte der 1990er Jahre publiziert wurden, finden nur noch die 4S*-Studie (1994)6 und die WOSCOP*-Studie (1995)7 Beachtung, werden aber ohne viel Federlesens als „von der Industrie gefälschte Statistiken” erledigt.
Dabei markiert die 4S-Studie, eine zwar vom Hersteller MSD gesponserte, aber methodisch gut durchgeführte Studie zur Sekundärprävention mit dem CSE-Hemmer Simvastatin (ZOCOR, Generika), einen Wendepunkt in der Geschichte der medikamentösen Cholesterinsenkung. Erstmals wurde hier der mortalitätssenkende Nutzen eines Lipidsenkers überzeugend belegt. Das Ergebnis der 4S-Studie blieb zudem nicht isoliert, sondern wurde 1998 durch die LIPID**-Studie8 mit Pravastatin (PRAVASIN, Generika) und 2002 durch die unabhängig von der Industrie durchgeführte HPS**-Studie9 wiederum mit Simvastatin bestätigt. Beide Studien belegen ebenfalls einen Überlebensvorteil unter den Statinen. Gemeinsam bilden vor allem diese drei Studien, an denen ausschließlich oder überwiegend Patienten mit manifester atherosklerotischer Erkrankung wie Herzinfarkt teilgenommen haben, die Evidenzbasis für Statine in der Sekundärprävention dieser Erkrankungen, die hier inzwischen zur Standardtherapie gehören – im Übrigen auch bei „normalen” Cholesterinwerten (a-t 2002; 33: 83-4).
Dies bedeutet nicht, dass es heute keine Kontroverse um die Cholesterinsenkung mehr gäbe. So ist ein Nutzen cholesterinsenkender Diäten – anders als es vielfach proklamiert wird – bis heute nicht zweifelsfrei belegt (vgl. a-t 2010; 41: 19-23). Strittig ist vor allem auch die Frage, ob die Senkung des LDL einen validen Surrogatparameter für die Minderung klinischer Ereignisse wie Herzinfarkte darstellt. Aus der Tatsache, dass Statine sowohl das Cholesterin senken als auch Herzinfarkte und Sterblichkeit mindern, kann nicht geschlossen werden, dass Cholesterinsenkung mit welchen Mitteln auch immer, einen klinischen Nutzen hat. Statine haben neben der Senkung des Cholesterins weitere gefäßaktive Wirkungen. Welche pharmakologischen Effekte für den klinischen Nutzen entscheidend sind, ist dabei nicht hinreichend geklärt. Umgekehrt wissen wir aus den Studien mit Clofibrat (außer Handel: REGELAN) oder dem gar nicht erst zur Marktreife gelangten Torcetrapib, dass mit bestimmten Lipidsenkern Morbidität und Mortalität trotz Cholesterinsenkung gesteigert werden. Es ist daher zu fordern, dass Lipidsenker, so zum Beispiel auch Ezetimib (EZETROL, in: INEGY), in kontrollierten Langzeitstudien auf ihren klinischen Nutzen hin geprüft werden, bevor sie breit verordnet werden (a-t 2008; 39: 19-21). In diesen Kontext gehört auch die nach wie vor strittige Frage der optimalen Strategie einer Statintherapie, nämlich als fixe Dosis („fire and forget”)10 oder Titration auf einen LDL-Zielwert hin, wie in vielen Leitlinien empfohlen. Während der Nutzen einer Statintherapie in fixer Standarddosierung gut durch randomisierte Langzeitstudien untermauert ist, gilt dies für die Titrierung auf bestimmte LDL-Werte hin nicht (a-t 2011; 42: 28-9).11
Ein nach wie vor kontroverses Thema ist auch die Primärprävention atherosklerotischer Erkrankung mit Statinen (vgl. a-t 2004; 35: 56-60).12,13 Sowohl die Studienlage als auch die Therapieentscheidungen in der Praxis sind hier mit deutlich größeren Unsicherheiten behaftet als in der Sekundärprävention. Gleichwohl hat sich auch hier der Kenntnisstand gegenüber der Zeit von vor 20 Jahren erheblich erweitert. In mehr als zehn randomisierten Interventionsstudien mit klinischen Endpunkten wurden Statine in der Primärprävention inzwischen geprüft. Konsistent werden schwere koronare Ereignisse wie Herzinfarkte gemindert. Der absolute Nutzen ist jedoch gering: Nach einer Metaanalyse14 ergibt sich pro Jahr eine Number needed to treat (NNT) von rund 400, im Vergleich zu einer NNT von 60 bis 170 pro Jahr in den drei wichtigsten Sekundärpräventionsstudien.6,8,9 Dabei dürfte dies noch eine Überschätzung darstellen, da in einigen Primärpräventionsstudien bei mehr als 10% der Patienten bereits eine Gefäßerkrankung bestand. Mit Ausnahme der umstrittenen JUPITER**-Studie (a-t 2008; 39: 119-21)15 lässt sich zudem in keiner der großen Einzelstudien zur Primärprävention eine signifikante Minderung der Gesamtsterblichkeit erkennen. Nach mehreren inzwischen veröffentlichten Metaanalysen sinkt die Gesamtsterblichkeit relativ um rund 10% bis 15% – überwiegend, aber nicht durchgehend signifikant.14,16-19 Selbst wenn man von einer signifikanten Minderung ausgeht, ist der Effekt jedoch sehr klein: Die NNT’s liegen zwischen 650 und 700 pro Jahr,14,18 wenn Patienten mit vorbestehenden Gefäßerkrankungen gänzlich ausgeschlossen werden, sogar bei 1.100 bis 1.400 pro Jahr17,19 (Sekundärprävention: 160 bis 280/Jahr). Dem stehen die Risiken einer Statintherapie gegenüber, die in der Primärprävention prinzipiell nicht geringer sind als in der Sekundärprävention (vgl. a-t 2012; 43: 31-2). Das Gros der Daten in Primärpräventionsstudien bezieht sich auf Männer im mittleren Lebensalter.18 Frauen scheinen nach neueren Studien allerdings ähnlich zu profitieren wie Männer.15,20 Für den Beginn einer Primärprävention im hohen Lebensalter fehlen jedoch nach wie vor hinreichende Daten: Die Ergebnisse für über 65-Jährige sollen sich nach Metaanalysen zwar nicht von denen bei Jüngeren unterscheiden,14,18 für über 70-Jährige ohne manifeste Gefäßerkrankungen, die nach der PROSPER***-Studie von einem Statin keinen Nutzen haben,21 gibt es unseres Wissens aber keine neueren gesonderten Auswertungen.
Angesichts dieser Datenlage ist es nachvollziehbar, dass sich einige Experten nach wie vor gegen eine Primärprävention mit Statinen aussprechen, darunter auch das unabhängige kanadische Arzneimittelbulletin „Therapeutics Letter”.22 Es gibt aber inzwischen auch viele kritische Experten, die die Primärprävention mit Statinen in bestimmten Situationen befürworten.23 Dabei besteht eine breite Übereinstimmung darüber, dass nicht ein Laborwert behandelt werden soll, sondern dass sich die Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Prävention an der Höhe des kardiovaskulären Gesamtrisikos orientieren soll.
Über die Behandlungsschwelle selbst wiederum gibt es keinen allgemeinen Konsens. Die Diskussion wird derzeit durch eine aktuell publizierte Metaanalyse der CTT****-Collaborators19 neu angefacht, nach deren Ergebnissen koronare Ereignisse bei Patienten ohne vorbestehende Gefäßerkrankungen nicht nur bei einem kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von unter 20%, sondern auch schon bei einem unter 10% signifikant gemindert werden. Die NNT’s sind aber hoch (303 bzw. 1.250/Jahr). Eine klare Minderung der Gesamtsterblichkeit der primärpräventiv behandelten Patienten ergibt sich zudem nur in der Gesamtgruppe einschließlich derjenigen mit deutlich höherem Risiko.19
Leitlinienempfehlungen variieren: Das britische NICE***** empfiehlt als Behandlungsschwelle ein kardiovaskuläres Risiko von 20% in zehn Jahren.24 Nach der Leitlinie der europäischen kardiologischen Gesellschaft (ESC) kommt eine medikamentöse Therapie jedoch schon bei einem 10-Jahres-Risiko von über 10% in Betracht.25 Bei einer solchen Behandlungsschwelle, wie sie ähnlich auch den CTT-Autoren vorschwebt,19 wären nach britischen Daten mehr als 80% der über 50-jährigen Männer und mehr als die Hälfte der über 60-jährigen Frauen Kandidaten für eine Statintherapie.26 Die Umsetzung eines solchen Konzepts würde demnach bedeuten, dass breite Bevölkerungsschichten ab einem bestimmten Alter automatisch zu Patienten würden und beträchtliche finanzielle Ressourcen für die Behandlung praktisch gesunder Menschen aufgebracht werden müssten. Nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses erstattet die GKV die Verordnung von Statinen in der Primärprävention erst ab einem Risiko von über 20% in zehn Jahren.27 Neuseeländische Leitlinien sind noch konservativer: Hier wird nach wie vor eine medikamentöse Primärprävention erst ab einem Risiko von 30% in zehn Jahren empfohlen.28
Die Ermittlung des Risikos ist ebenfalls nicht unproblematisch. In der Praxis hat sich die Verwendung von Risikokalkulatoren wie PROCAM******29 oder arriba******30 durchgesetzt. Unter pragmatischen Gesichtspunkten erscheint uns dies eine vertretbare Lösung. Angesichts der unzureichenden Validierung aller verfügbarer Risikokalkulatoren muss dabei aber berücksichtigt werden, dass die jeweils ermittelten Werte auch bei präzisen Zahlenangaben nur eine grobe Schätzung darstellen. Wir ziehen unter den verschiedenen Kalkulatoren den unter Beteiligung von Hausärzten in Deutschland entwickelten Risikorechner arriba vor, unter anderem deshalb, weil er gleichzeitig ein Beratungskonzept anbietet, das Ärzte unterstützen soll, die besonders in der Primärprävention schwierige Entscheidung gemeinsam mit den Patienten zu finden.
Das HARTENBACH-Buch „Die Cholesterinlüge” ist veraltet und klammert wesentliche Erkenntnisse aus.
In der Sekundärprävention atherosklerotischer Erkrankungen mindern Statine in mehreren Studien sowohl nichttödliche kardiovaskuläre Komplikationen als auch die Sterblichkeit. Statine gehören bei diesen Patienten heute zur Standardtherapie.
Auch in der Primärprävention gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, in denen konsistent eine Minderung der Herzinfarktrate durch Statine dokumentiert wird. Der Nutzen ist bei geringem kardiovaskulären Ausgangsrisiko jedoch entsprechend klein. Die Gesamtsterblichkeit dürfte bei diesen Patienten erst bei hohem Risiko gemindert sein.
Statine sollten daher in der Primärprävention nur bei hohem kardiovaskulären Risiko von über 20% in zehn Jahren in Betracht gezogen und die Entscheidung für oder gegen eine Therapie gemeinsam mit den Patienten getroffen werden.
(R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | |
1 | HARTENBACH, W.: Die Cholesterin-Lüge. Das Märchen vom bösen Cholesterin, 32. Aufl., Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München 2012 |
2 | Consensus Conference: JAMA 1985; 253: 2080-86 |
3 | Study Group, European Atherosclerosis Society: Eur. Heart. J. 1987; 8: 77-88 |
4 | BERGER, M.: Dt. Ärztebl. 1991; 88: A-45-7 |
M 5 | MULDOON, M.F. et al.: BMJ 1990; 301: 309-14 |
R 6 | Scandinavian Simvastatin Survival Study Group: Lancet 1994; 344: 1383-9 |
R 7 | SHEPHERD, J. et al.: N. Engl. J. Med. 1995; 333: 1301-7 |
R 8 | The Long-Term Intervention with Pravastatin in Ischaemic Disease (LIPID) Study Group: N. Engl. J. Med. 1998; 339: 1349-57 |
R 9 | Heart Protection Study Collaborative Group: Lancet 2002; 360: 7-22 |
10 | DONNER-BANZHOFF, N., SÖNNICHSEN, A.: BMJ 2008; 336: 288-9 |
11 | HAYWARD, R.A., KRUMHOLZ, H.M.: Circ. Cardiovasc. Qual. Outcomes 2012; 5: 2-5 |
12 | BLAHA, M.J. et al.: JAMA 2012; 307: 1489-90 |
13 | REDBERG, R.F., KATZ, M.H.: JAMA 2012; 307: 1491-2 |
M 14 | BRUGTS, J.J. et al.: BMJ 2009; 338: b2376 |
R 15 | RIDKER, P.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2008; 359: 2195-207 |
M 16 | MILLS, E.J. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2008; 52: 1769-81 |
M 17 | RAY, K.K. et al.: Arch. Intern. Med. 2010; 170: 1024-31 |
M 18 | TAYLOR, F. et al.: Statins for the primary prevention of cardiovascular disease. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Sept. 2007 |
M 19 | Cholesterol Treatment Trialists’ Collaborators: Lancet 2012; 380: 581-90 |
R 20 | NAKAMURA, H. et al.: Lancet 2006; 368: 1155-63 |
R 21 | SHEPHERD, J. et al.: Lancet 2002; 360: 1623-30 |
22 | Therapeutics Letter, März-April 2010 http://www.ti.ubc.ca/sites/ti.ubc.ca/files/77.pdf |
23 | DONNER-BANZHOFF, N., SÖNNICHSEN, A.: BMJ 2008; 337: a2576 |
24 | NICE: Lipid modification. Cardiovascular risk assessment and the modification of blood lipids for the primary and secondary prevention of cardiovascular disease, März 2010; http://www.nice.org.uk/nicemedia/live/11982/40689/40689.pdf |
25 | GRAHAM, I. et al.: Eur. Heart J. 2007; 28: 2375-414 |
26 | EBRAHIM, S., CASAS, J.P.: Lancet 2012; 380: 545-7 |
27 | G-BA: Arzneimittel-Richtlinie, Anlage III, Stand Okt. 2011 http://www.g-ba.de/downloads/83-691-269/AM-RL-III-Verordnungseinschränkung-2011-10-01.pdf |
28 | New Zealand Guidelines Group: Primary Care Handbook 2012; zu finden über: http://www.nzgg.org.nz/search?clinical_area_id=24 |
29 | http://www.assmann-stiftung.de |
30 | http://www.arriba-hausarzt.de |
* | 4S = Scandinavian Simvastatin Survival Study WOSCOP = West of Scotland Coronary Prevention |
** | HPS = Heart Protection Study JUPITER = Justification for the Use of Statins in Prevention: an Intervention Trial Evaluating Rosuvastatin LIPID = Long-term Intervention with Pravastatin in Ischaemic Disease |
*** | PROSPER = Prospective Study of Pravastatin in the Elderly at Risk |
**** | CTT = Cholesterol Treatment Trialists’ |
***** | NICE = National Institute for Health and Clinical Excellence |
****** | arriba = Akronym für die 6 Schritte der Entscheidungsfindung in der kardiovaskulären Prävention (www.arriba-hausarzt.de/arriba/index.html) PROCAM = Prospective Cardiovascular Münster Study |
© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 17. August 2012
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